Kolumnen_Linientreu #14

Platzangst

Haben Sie jemals Ihre Station verpaßt? Ich nicht. Aber viele scheinen Angst davor zu haben. Ich wage heute eine tiefenpsychologische Analyse - mit pfiffigem Lösungsansatz.    30.09.2013

Straßenbahn, U-Bahn, Autobus - die öffentlichen Verkehrsmittel (im Wiener Werbefirmen-Dialekt "Öffis" genannt) sind social ohne network, die dringend nötige Pause zwischen Streß im Job und Streß zu Hause, der bekanntlich viel interessantere Weg zum ohnehin immer gleichen Ziel. Nirgendwo sonst liegen Freud und Neid, Tanzschule und unterste Schublade, Hoffnung und Verspätung so eng nebeneinander. Und die Wahrheit lauert stets irgendwo im Spalt zwischen U-Bahntür und Bahnsteig. Vorsicht beim Einsteigen!

 

Es gibt diesen Alptraum, den kennen Sie sicher: Sie wollen irgendwohin, haben einen dringenden Termin, sind schon spät dran, aber Sie kommen einfach nicht an, was auch immer Sie versuchen. Die U-Bahn kommt nicht. Der Zug fährt nicht. Die Türen gehen nicht auf. Sie stehen an der Haltestelle, und die Busse fahren an Ihnen vorbei. Sie laufen, kommen aber nicht voran. Oder Sie sitzen schon in der Straßenbahn und wollen aussteigen, können sich aber beim besten Willen nicht bewegen, während die Stationen in schier unerreichbarer Ferne an Ihnen vorbeigleiten und entschwinden. Es wird immer später, Ihr Bemühen immer verzweifelter, der Chef/die Frau/der Steuerberater immer wütender.

Dann wacht man auf. Man geht zur Busstation, man steigt ein, man steigt wieder aus, alle Termine werden eingehalten, alle sind beruhigt. Jedenfalls die meisten von uns. Die anderen stehen im Weg oder sitzen falsch.

Gut, es gibt Situationen, da verpaßt man die Station. Im Vollrausch, der in der Remise endet oder im Morgengrauen irgendwo in Spring-ins-Feld. Oder auch bei der Polizei, weil die Tasche weg ist, die Hose, die Jacke und der Goldzahn.  

Wenn der Axtmörder gerade genüßlich sein letztes Opfer foltert und die Detektive das falsche Haus durchsuchen, wenn jede Sekunde den Unterschied zwischen Gemetzel und traumatisiertem Leben ausmacht - dann ist das Buch zu spannend, und die Realität zieht an Ihnen vorbei.

Wenn Sie gerade umgezogen sind und Ihr Unterbewußtsein stur darauf beharrt, daß Sie immer noch am anderen Ende der Stadt wohnen - auch dann haben Sie wahrscheinlich Ihre Station verpaßt.

Die restlichen 500.000 Menschen, die täglich die Öffis benutzen, haben keinen Grund, im Weg zu stehen oder zu sitzen. Sie haben aber eine Ausrede: "Ich steig´ gleich aus." Das ist meistens eine Lüge. Wenn alle Leute, die sich so schön am Eingang drängen, gleich aussteigen würden, hätten wir in den Öffis kein Platzproblem. Sie steigen aber nicht aus. Sie haben Angst, nicht aussteigen zu können, wenn sie wollen. Da bleiben sie sicherheitshalber gleich direkt an der Tür kleben.

Sie könnten auch ins Wageninnere vorrücken, das ist ihnen aber dann doch zu abenteuerlich. Wer weiß, welche Gefahren im Halbdunkel des Niederflurs lauern? Gibt´s da überhaupt Haltegriffe? Ist die Drehscheibe in der Mitte so gefräßig, wie sie aussieht? Werden da die Fahrscheine nicht öfters kontrolliert? Sehr suspekt, nein danke, dann lieber in der Menschentraube hängen.

Ich plädiere für einen Platzanweiser, der den Menschen ihre Ängste nimmt: "Gnä Frau, folgen Sie mir, es kann Ihnen nichts passieren. Da ist noch Platz." "Werter Herr, ich leuchte Ihnen den Weg. Sehen Sie, hier ist alles frei." Problem gelöst, Arbeitsplatz geschaffen, Wirtschaftskrise entschärft.

Der Platzanweiser wäre das Sinnbild der Gerechtigkeit, das Aushängeschild der Umverteilung, der Schafhirte der Wiener Linien. Und er verwiese Misanthropen in ihre Schranken. Sie wollen keinen Sitznachbarn zu Stoßzeiten? Ich darf Sie jetzt höflich bitten, die Öffentlichkeit zu verlassen. Zu Hause können Sie so viele Sitzplätze für Ihre Handtasche reservieren, wie Sie wollen.

Ich höre den Platzanweiser mit Trillerpfeife vor meinem geistigen Ohr. Jedesmal, wenn wieder so ein Volltrottel im Bus glaubt, neben ihm sitzt nur die Zeitung, ertönt der Mahnungspfiff ins Ohr des Besetzers. Und wenn besagter Volltrottel dann nicht wie der Blitz ans Fenster rückt, ist er draußen. Ach so, Sie steigen eh gleich aus? Ich werde das beobachten.

Sie meinen, wir haben sowieso schon zu viele Regeln, die uns das Leben vermiesen? Stimmt. Aber dann überwinden Sie bitte Ihre Ängste und rücken Sie von der Tür ab, wagen Sie den Sprung ins Wageninnere oder zum Platz am Fenster. Nur so kommen Sie wieder raus, wenn Sie müssen. Nur so verpassen Sie nichts. Nur so können wir alle dem Alptraum entfliehen.

Entweder das oder die Trillerpfeife.

Nina Munk

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