Kolumnen_Depeschen an die Provinz/Episode 19

Auf der Flucht

Nach eineinhalb Jahren in der Provinz ist unser Kolumnist immer noch traumatisiert - und warnt deshalb sogleich vor dem üblen Neo-Heimatkitsch in unseren Trafiken, der nichtsahnende Großstädter hinaus aufs Land locken will.    18.11.2019

Es fängt immer gleich an: "Weit hinten im Zillertal, am Rande eines beschaulichen Dörfchens, steht ein uralter Bauernhof. In der gemütlichen Stube sitzen sechs alte Frauen in traditioneller Trachtenkleidung an ihren Spinnrädern und üben ihr fast vergessenes Handwerk aus. Dabei singen sie Volkslieder, die sie noch von den Großmüttern gelernt haben, während im Kamin ein fröhliches Feuerchen prasselt."

Spätestens an dieser Stelle möchte ich eine Uzi in jede Hand nehmen und dort, im schönen Zillertal, das fast vergessene Handwerk des Amoklaufs in Erinnerung rufen. Dann besinne ich mich jedoch und trample nur ein wenig auf der Illustrierten herum, die derart ungesunde Gefühle in mir geweckt hat. Sie heißt Griaß di am Land!, ist wie ihre vielen Konkurrenzprodukte (Wald und Wiesel, Neue Feldpost oder Provinzgeil: Bäuerinnen unten ohne) ein Verkaufsschlager - und in Wahrheit nichts anderes als der schlechte alte Heimatroman, nur mit viel mehr Seiten und großformatigen Edelphotos, daher auch zirka dreißigmal so teuer.

Zeitschriften wie diese werden nicht nur in der Hauptstadt gekauft, wo ich jetzt endlich wieder wohne, sondern auch in kleineren Gemeinden und groteskerweise sogar im winzigsten Kaff. Sie leben von derselben verlogenen Nostalgie wie Volksmusiksendungen im Fernsehen, pervers häßliche Landhausmode oder der jährliche Maiaufmarsch am Ring: Früher war alles ganz wunderbar, ein einziges Idyll, und in irgendeinem versteckten Winkel unseres schönen Österreich ist es garantiert auch heute noch so. Dort existiert ein wahres Paradies, wo Schilcher und Honig fließen, das Lamm friedlich beim Löwa liegt und der ehrliche Bauer wieder 50 Cent für seine Milch kriegt.

Glauben Sie mir: Es ist nicht wahr. Ich war draußen in der Provinz und habe die Wahrheit gesehen. Ich wagte mich in die Dorfwirtshäuser, wo plötzlich alle schweigen, wenn du das Lokal betrittst, und die Finger zur Mistgabel zucken, wenn sie mitkriegen, daß du ein Wiener bist. Ich wanderte über entlegene Bergpässe, die jedes Wochenende von Motorraddeppen in ein lärmendes Inferno verwandelt werden. Ich blickte sprachlos vor Grauen auf die seelenlosen Piefke-Betonburgen in Tirol und spürte in den verfallenen Industrieorten der Mur-Mürz-Furche, wie die Depression eiskalt in meine Knochen kroch. Ich sprach zu den alten Frauen aus dem Zillertal, als sie die Spinnräder wieder weggeräumt hatten, und vernahm ihre jahrzehntealten Geschichten von Haß, Neid und fremdgehenden Ehemännern. Und ich erkannte: Nach ein paar Jahren im Hinterland ist jeder soweit, daß er sich in der Scheune aufhängen will, so wie mit unheimlicher Regelmäßigkeit wieder einmal einer der am Leben gescheiterten Einheimischen, wenn ihn nicht vorher der Alkoholismus dahinrafft.

Das ist traurig, meinen Sie? Na ja, schon - aber wenigstens ehrlich. Anders als der moderne Illustrierten-Heimatkult, der auf Öko-Kitsch setzt statt wie einst auf Blut und Boden. Da gibt es nur noch nachhaltig bewirtschaftete, CO2-neutrale und energieeffiziente Bauernhöfe, die sich sowieso kein echter Landwirt leisten kann, weil er längst von der EU in den Ruin getrieben wurde. Auf den Berghängen hausen praktisch lauter Aussteiger und Alternative und pflegen dort bedächtig ihre Rübezahlbärte. Ja, einst waren sie Manager, aber dann wollten sie sich samt Gattin selbst finden und gingen deswegen dorthin, wo sie nichts verloren haben. Ihre Kinder zuzeln Sojamilch aus der Mutterbrust und rutschen im Schulalter täglich am Kabel der Materialseilbahn ins Tal hinunter, weil die lieben Eltern keinen Strom verschwenden wollen. In ihren mit Sparlampen spärlich beleuchteten Bauernküchen hängt kein Führerporträt mehr über dem alten Herd, sondern eine Autogrammkarte von Dr. van der Bellen. Und im Winter sind sie alle gemeinsam auf der Alm eingeschneit, streicheln das herzige Bio-Rind, das sie bald darauf gemeinsam abstechen und zsammfressen müssen, und werden vor lauter Lagerkoller wahnsinnig.

Auf einmal sehnt man sich wieder nach dem Dorfwirtshaus, auch wenn man genau weiß, daß es dort spätestens nach dem vierten Bier einen Wickel geben wird. Aber wahrscheinlich ist das genau der Hauch Realität, der einen wieder mit Leib und Seele in die Stadt zurücktreibt - und in der Trafik nicht mehr zum synthetischen Idyll, sondern zum neuen Jerry Cotton greifen läßt. Weil: wenn schon gelogen, dann wenigstens spannend.

Peter Hiess

Depeschen aus der Provinz


Peter Hiess lebte nach Jahrzehnten in seiner Geburtsstadt Wien 18 Monate lang auf dem Land - oder noch schlimmer: in einer Kleinstadt. An der Donau. Als er dann eines Besseren belehrt nach Wien zurückflüchtete, stellte er sich der Aufgabe, das Volk da draußen über das (provinzielle) Leben in der Metropole zu unterrichten.

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