Kolumnen_Miststück der Woche IV/1 - Leserwunsch #11

Witchy Chicks: "My Armadillo Comes First"

Manfred Prescher ist zwar noch ganz hin und weg von den Glückwünschen zum Jubiläum, aber der Alltag hat ihn trotzdem wieder. Obwohl, im milden Licht des Herbstes betrachtet ist die Band, um die es diesmal geht, nicht wirklich alltäglich. Im Gegensatz zu euren Wünschen - damit könnt ihr den Kolumnisten übigens nach wie vor "bombardieren". Weil der bekanntlich echt über alles schreibt ...    03.11.2014

Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf - und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, daß du nur noch die Welt retten mußt oder daß Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?

In dieser Kolumne geht es um hinterhältige und fiese Lieder, die sich in dir festsetzen.

 

 

Also irgendwie erinnert mich das Ganze an irgendwas - genauer gesagt, an einen wild-charmanten Seniorenhaufen aus Kuba, der hauptsächlich aus fünf betagten Herren und einer rüstigen Dame bestand. Hier sind es nun vier überaus gestandene Männer, die tief verborgen im US-amerikanischen Süden seit dem Kambrium zusammen musizieren. Aufmerksam wurde ich auf die Witchy Chicks vor einigen Monden; damals waren sie aber in ihrer Heimat schon auf dem Weg vom Kultstatus zum Star-Ruhm.

Die beste Liebespartnerin von allen hat die Gruppe beim Zappen entdeckt und mich auf das Video zur Single "My Armadillo Comes First" hingewiesen. Mittlerweile ist der Bekanntheitsgrad der Haudegen freilich beträchtlich gestiegen, "Der Spiegel" und "ARTE Tracks" haben unter anderem über das Phänomen berichtet, und auch der "Süddeutschen Zeitung" waren die Witchy Chicks einen launigen Artikel im Magazin "Jetzt" wert. Die Aufmerksamkeitswelle rollt zu Recht auf uns zu, da die vier Männer, von denen jeder mindestens 85 Jahre auf dem gekrümmten Buckel hat, wirklich "outstanding" und ziemlich cool sind.


Was passiert ist, seitdem ich den Clip zum ersten Mal gesehen habe, liest sich wie ein Märchen - eines, das man in Obereinherz mittlerweile genauso erzählt wie in St. Veit an der Glan. Über den Ort gibt es später noch etwas zu berichten, aber jetzt erstmal die aktuellen Fakten. Fakten, die belegen, daß auf dieser Welt doch so ziemlich alles möglich bzw. - um es mit dem Werbeslogan eines japanischen Autoherstellers zu sagen - "nichts unmöglich" ist: "Armadillo Mozart", das tatsächlich erste Album der spätzumerfolgberufenen Herren, erschien zuerst kaum beachtet vor gut zwei Jahren beim winzigen Indie-Label Fat Wreck Records und sprach sich via Mundpropaganda und Internet-Trendscouting langsam herum. Mittlerweile wird die CD nebst den üblichen Downloads via Universal Music weltweit vertrieben und rangiert in den USA in den Top 10 der Charts. In der vergangenen Woche wurden allein in den Staaten mehr als 150.000 Tonträger der Chicks verkauft, sie sind für mehrere Grammys nominiert, und Robert Rodriguez hat sich die Filmrechte an der ganz besonderen Geschichte der Band gesichert. Derzeit wird, so die International Movie Database, "Witchy Chicks - Keep On The Sunny Side" unter der Regie der Coen-Brüder bereits gedreht - und zwar in Pflugerville/Texas.

War jemand von meinen Lesern schon mal in Pflugerville? Vermutlich nicht, denn dort strandet man eher zufällig. Das Städtchen liegt mitten im "Lone Star"-State, hat rund 16.000 Einwohner und wenig zu bieten. Dorthin hat allerdings der Lauf der Weltgeschichte die Eltern der Witchy Chicks verschlagen. Gemeinsam floh man vor Armut und Krieg Anfang des 20. Jahrhunderts aus Kärnten, genauer aus St. Veit an der Glan, und landete über diverse Umwege schließlich in Pflugerville, das heute übrigens - Zufall? Fügung? - praktisch genauso winzig ist wie St. Veit. Die Familien Herbrachtinger, Feichtenbeiner, Mögl und Wanwitzer ließen sich schließlich nördlich von Austin nieder, betrieben Farmen, waren Schuster und Bäcker und buken als solche beispielsweise leckeres "Karawankenbrot" für nicht sehr verwöhnte texanische Mägen. Und sie musizierten gemeinsam auf traditionelle Weise.

Die Söhne Josef Herbrachtinger, Franz-Xaver Feichtenbeiner, Hermann Mögl und Ludwig Wanwitzer wuchsen praktisch mit den Klängen der versunkenen Heimat auf, aber sie hörten Hillbilly, später auch die Country-Songs von Hank Williams, Roy Acuff oder Tex Ritter - und Rock´n´Roll. Auf diversen Hayrides traten sie auf, während sie - ganz echte, kernige Buam - gleichzeitig in die Fußstapfen ihrer Altvorderen traten und die Geschäfte weiterführten. Auf den Konzerten setzten sie neben Kontrabaß, Gitarre und Schlagzeug auch Maultrommel, Birkenblatt oder Strohfiedel ein, was sie übrigens bis heute tun. Dazu wird gejodelt, und es hält sich die Mär, daß der typische, schnelle Wechsel zwischen Brust- und Falsettstimme, der im Süden der USA durchaus gebräuchlich ist, von den vier Familien aus St. Veit verbreitet wurde.

 

Die Musik der Witchy Chicks paßt zum aktuellen Folk-Trend, den die Lumineers oder auch Mumford & Sons populär machten, ist aber ziemlich einzigartig. Die Band rockt nämlich wie die Hölle und schreibt richtig moderne Songs. Einige davon wurden tatsächlich durch vorbeireisende Rockstars zu Hits gemacht, etwa "Running With The Devil" durch Van Halen oder "Coming Home" durch Kiss. Die Tantiemen reichten, um die Gartenzäune zu erneuern und ordentliche Grillplätze zu bauen. Das beschauliche Leben der texanischen Österreicher änderte sich, als der erfahrene Produzent T-Bone Burnette ("O Brother Where Art Thou", Elton John, Jakob Dylan, Willie Nelson ...) gemeinsam mit seinem Kumpel Elvis Costello durchs weite Land zog und die Witchy Chicks live sah.

Burnett beschreibt das Quartett als "viril und fit", nimmt die Herren unter Vertrag und dann im Heuschober der Feichtenbeiners das Album "Armadillo Mozart" auf. Die 13 magischen Stücke, die jedes Bein automatisch in Schwung versetzen und gute Laune verschaffen, drehen sich um das texanische Nationaltier, das Armadillo bzw. auf gut deutsch das Gürteltier. Gürteltiere darf man in Texas weder jagen, geschweige denn essen, und wer versehentlich eines überfährt, wird bestraft. In einem Land, in dem man seine Notdurft per Gesetz auch am Straßenrand verrichten darf und in dem das Trinken von Hochprozentigem per Steuererlaß erleichtert wird, ein sehr überraschender Umstand ...

Doch zurück zu den Witchy Chicks: sie widmen ihr Album dem treuen Haus- und Hoftier, adeln es gleich mit der ersten Single "My Armadillo Comes First". Im Video ist zu sehen, wie - typisch für Country-Songs - der Ich-Erzähler von Frau, Kindern und Hund verlassen wird, seine Jobs bei Eisenbahn und in der Silbermine verliert, was er allerdings mit texanisch-kärntnerischem Gleichmut hinnimmt, solange nur sein Gürteltier neben ihm hertrollt und sich immer wieder zur gepanzerten Kugel zusammenrollt. Getreu dem Motto "Vergeßt Mozartkugeln, das Bällchen hier ist viel süßer", singt Frontmann Herbrachtinger das Hohelied der Liebe zum Gürteltier. Der große Bob Dylan hat übrigens schon eine Coverversion des Songs im Kasten, sie erscheint im Dezember auf seinem Album "Slow Animal Blues". Aber das nur am Rande.

Die Magie der Witchy Chicks ist ihre ungeheure Vitalität, die sie mit überbordenden musikalischen Fähigkeiten und einem Händchen für schmissige Refrains verbinden. Auf der Bühne halten sie tatsächlich fast drei Stunden lang durch, so wie im Juni dieses Jahres, wo sie auf dem Glastonbury Festival gegen hochkarätige Jungspunde wie Arcade Fire, MGMT oder die Arctic Monkeys gar nicht alt aussahen. "Glernt is glernt", diktierte Witchy-Chicks-Bassist Hermann Mögl danach ebenso lapidar wie lakonisch dem österreichischen Magazin "Profil" in die virtuelle Feder. Nächstes Jahr, rechtzeitig zum Filmstart von "Keep On The Sunny Side", treten die Witchy Chicks dann bei "Rock am Ring"/"Rock im Park" auf - im Umfeld von Slipknot, den Foo Fighters, den Toten Hosen und den fast gleich alten Motörhead. Die Gürteltiere müssen beim Deutschland-Trip allerdings in Texas bleiben.

Nächste Woche erfülle ich hier einen weiteren Leserwunsch; es wird dann um die Housemartins gehen, deren Heimat Kingston upon Hull doch etwas größer ist als St. Veit oder Pflugerville. Was mir zur Band um Sänger Paul Heaton und den Song "Flag Day" einfällt? Na, mal schauen. Ich weiß auf jeden Fall, daß der schöne Song seinerzeit die erste Single der Gruppe war und - gemeinsam mit dem sehr erfolgreichen Isley-Brothers-Cover "Caravan Of Love" auf der wunderbar selbstbewußten LP "London 0 Hull 4" zu finden ist. Der Fußballverein Hull City steht übrigens aktuell auf Platz 10 der englischen Premier League, gewinnt aber in der Regel selten gegen die Großklubs aus London. Um Soccer geht es nächste Woche jedoch garantiert nicht, das sei schon verraten. Laßt euch einfach überraschen und seid bis dahin lieb zu euren Mitmenschen, paßt auf die Gürteltiere auf und vergeßt Mantel und Mütze nicht. Es wird schließlich Winter in St. Veit an der Glan, da zieht man einen Janker an.

 

Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

"My Armadillo Comes First"

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Enthalten auf der CD "Armadillo Mozart" (Roadkill Records)

 

(Cover-Illustration © Jörg Vogeltanz)

Links:

"Das Ding krieg´ ich wohl nie mehr los"

Manfred Prescher/Interview


Das "Miststück der Woche" wurde vor kurzem 300 Ausgaben jung. Grund genug, um den Erinnerungs-Blues anzustimmen und über Vergangenes und Zukünftiges zu sprechen: Manfred Prescher im EVOLVER-Interview.

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