Tom Waits - Orphans
Anti (USA 2006)
Rumpel-Beat, Reibeisenstimme und Retro-Country sind grundlegende Elemente im Werk von Tom Waits - und reichen aus, um immer noch zu faszinieren. Findet Manfred Prescher. 20.11.2006
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
"In a bar in Toledo across from the depot/on a barstool she took off her ring/I thought I´d get closer/So I walked over/I sat down and asked her name/When the drink finally hit her/She said I´m no quitter/But I finally quit living on dreams/I´m hungry for laughter/And here ever after/I´m after whatever the other life brings ..."
Irgendwann kommt dann der Refrain: "You picked a fine time to leave me, Lucille". Und danach erzählt der gehörnte Ehemann von den vier kranken Kindern und der zu tiefst verkitschten menschlichen Tragödie, in die ihn das Ende der Beziehung stürzt.
Als Verfechter und Entwickler der Katastrophenkonvergenztheorie, der ich nun mal bin, ist mir natürlich klar, daß ein Unglück ausreicht, die Dominosteinchen weiterer Malaisen zum Einsturz zu bringen. So funktioniert Kenny Rogers´ tränennasse Country-Schnulze von anno ´77. Das Thema ist älter als der Nashville-Sound; es gehörte neben Tod und Teufel, Sex und Schnaps schon zu den Hauptsujets des Genres, lange bevor Hank über den Regenbogen driftete. Tom Waits, der Poet, der wie kaum einer sonst menschliches Elend in Worte ummünzt und diese dann so eindringlich vorträgt, daß noch das winzigste Spurenelement der Verzweiflung den Hörer mitten ins Mark trifft, macht selbst traditionelle Storys wie diese zu etwas Besonderem. Warum er sich mit "Tell It To Me" so sehr an "Lucille" anlehnt, bleibt allerdings die Frage.
Gewiß, nach dem Beginn seiner Karriere im Zappa- und Beefheart-Umfeld widmete sich Waits mit Leib, Seele und einer eher normalen Stimme dem Country-Style der Outlaws und war mit den Alben "Closing Time" und "Heart Of The Saturday Night" näher an Kris Kristofferson oder Willie Nelson, bevor er mit dem Live-Werk "Nighthawks At The Diner" und dem 76er-Meilenstein "Small Change" seine einmalige Art, gurgelnd zu singen (oder singend zu gurgeln?), fand.
Die Country-Elemente blieben aber erhalten, wovon beispielsweise das geniale "Blind Love" von der LP "Rain Dogs" zeugt. Auf dieser Platte hat Waits die Vorgaben in punkto Tragik, Welt- und Herzschmerz vielfach gebrochen und ist so immer haarscharf am Schmalztopf vorbeigeschrammt, daß man das als kunstvoll-durchdachten Geniestreich empfinden mußte.
Bei "Tell It To Me" ist nichts durchbrochen, der Song ist tatsächlich eine deutlich verlangsamte Version des 30 Jahre alten Riesenhits - und der brach auch schon keine Temporekorde. Logischerweise, muß man sagen, denn wer allmählich am Grund der Whiskeyflasche angekommen ist, wird zusehends fahriger im Bewegungsablauf und versinkt ohnehin in Melancholie. Wenn Schmerz und Weinbrand zusammenkommen, wird der Weltenlauf vorübergehend rapide abgebremst.
Genau diesen Moment hat Tom Waits in vielen Liedern festgehalten. Auf seiner aktuellen Dreifach-Box "Orphans" zeugen gleich zwei Discs davon. Diese "Brawlers"/"Bawlers" oder "Streithammel"/"Schreihälse" genannten Platten sind gesammelte Werke und bestehen praktisch nur aus Liedern, die thematisch und vom Klangbild her mit Country zu tun haben und oft ebenfalls sehr schlicht durchkomponiert sind. Die dritte Platte heißt "Bastards" und bietet den ebenfalls typischen, immer weiter verfremdeten Rumpel-Blues, den der Mann aus Pomona/Kalifornien mit "Heart Attack & Vine" eingeführt und seitdem perfektioniert hat. Das ist mittlerweile mehr jazzig als je zuvor; durch die Stimme wirken die "Bastards" oft, als würde ein bekiffter Louis Armstrong zur Kirmesorgel die Blues-Tonleiter entlangimprovisieren.
Die "Brawlers" sind auf jeden Fall leichter zu konsumieren. Man kann sich gut vorstellen, daß Rod Stewart, der bekanntermaßen ein Fable für die Country-Songs von Tom Waits hat, auch "Tell It To Me" covert und in mehrere Säcke Silberlinge ummünzt.
Eines haben alle 56 Stücke auf "Orphans" gemeinsam - und das sagt auch schon der Name, der übersetzt "Waisenkinder" bedeutet: Die Lieder stammen aus unterschiedlichen Zeiten, sind weitgehend unveröffentlicht, weil sie entweder grad nicht auf das betreffende Album paßten oder weil Waits sie nach der Produktion achtlos links liegen - also verwaisen - ließ, wie er nun betont. Durch die Studiocrew gelangten viele der musikalischen Überbleibsel dann irgendwie an Hardcore-Fans.
Weil der Künstler wohl ein echter Schlamper ist, mußte er nun zum "Bottom Of The World" und sich mit detektivischem Geschick um die quer über den Planeten verstreuten Songs kümmern, also sein Eigentum zurück ins heimische Archiv bringen. Bei "Tell It To Me" war ein solcher Aufwand allerdings nicht notwendig: Das ebenso eingängige wie deprimierende Requiem einer Liebe ist eine der neu entstandenen Nummern. Doch selbst, wenn das nicht der Fall wäre, hätte Waits nicht danach suchen müssen. Es hätte genügt, Kenny Rogers´ Hit anzuhören, die Notenreihenfolge leicht zu ändern und das Tempo herauszunehmen - und fertig wäre die Weinbrandlaube.
Wie "Lucille" bleibt auch "Tell It To Me" im Ohr. Man leidet mit, ob man will oder nicht. Und hadert damit, daß einem solch klebriger Honig schmeckt. Das Gute ist allerdings, daß man sich in der aufgeklärten Öffentlichkeit nicht dafür schämen muß, daß man das Lied liebt. Schließlich singt es Tom Waits - und das adelt in Kreisen, die über Kenny Rogers die Nase rümpfen, selbst eine simple Country-Melodie.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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