Massive Attack: "Daydreaming"
Enthalten auf der CD "Blue Lines" (Virgin/EMI)
Eigentlich waren die 90er Jahre gar nicht mal so übel, findet Manfred Prescher. "Schuld" daran ist unter anderem eine Formation, auf die sich alle Menschen mit Geschmack einigen konnten. Deshalb wundert es den Kolumnisten auch nicht, daß ein Leser sich was von dieser Gruppe wünschte. 18.05.2015
Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf - und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, daß du nur noch die Welt retten mußt oder daß Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?
In dieser Kolumne geht es um hinterhältige und fiese Lieder, die sich in dir festsetzen.
Geschmäcker sind bekanntlich verschieden - und obwohl Max Goldt einst meinte, daß "Verschiedenartigkeit scharf" mache, gibt´s doch Grenzen der Unterschiedlichkeit, die man bzw. mädel nicht überschreiten sollte. Bei der Partnerwahl, versteht sich. Schaut euch, das ist mein wohlgemeinter Rat, vorher an, welche CDs oder LPs beim potentiellen Liebsten/der potentiellen Liebsten im Regal stehen oder welche Files sich auf irgendeinem Gadget befinden. Damit diese relevante Forschungsarbeit nicht zur Stasi-Aktion wird, sind vorsichtige Annäherungsgespräche zielführend. Die beste Liebespartnerin von allen steht zum Beispiel sehr auf The Smiths und Massive Attack - und das sind, für sich und auf ihre spezifische Weiblichkeit hin gesehen, sehr überzeugende innere Werte. Allerdings hätte sie sich für die Kolumne vermutlich ein anderes Lied gewünscht, vielleicht "Unfinished Symphony" oder so. Aber bekanntermaßen sind Geschmäcker einfach verschieden. Erst recht, wenn es um eine Band geht, auf die sich der studierte Zeitgeist seinerzeit und in der heutigen Rückschau einigen konnte. Generell haben die TripHop-Pioniere um Robert "3D" Del Naja leider nur fünf Alben und ein paar Singles, EPs und Remixes hinterlassen, aber dieses Werk werden wir alle ohn´ Unterlaß weiter lieben.
"Be Thankful For What You Got" heißt das einzige echte Cover auf dem Debütwerk von Massive Attack. Diese soulige Hymne von William DeVaughn sollten wir uns auch im Original immer und immer wieder anhören - und uns den Titel zur Präambel für den artgerechten Umgang mit den Platten der Gruppe aus Bristol machen. Denn die Herrschaften haben uns reich beschert - mit chilligen, clubbigen Sounds, wahnsinnigen Melodien und einem Sound, der nicht nur die Seele berührte. Durch die Haut bis auf die Knochen und zu anderen Stellen im Körper gelangte die Musik. Etwa in den Kopf, der sich unweigerlich fragte, von wo er die einzelnen Klangschnipsel, die ein trippiges Ganzes ergaben, kennt. Anders als bei aktuellen Bands vom Schlage der allseits beliebten Epigonen von One Republic zeigten Massive Attack nicht nur eine ungeheure Vielseitigkeit, wilderten beim Northern Soul genauso wie beim Jazz von Blue Note oder Verve, bei Isaac Hayes, bei Billy Cobham oder dem Mahavishnu Orchstra, beim Dub von Mad Professor, bei Ultravox, Siouxsie & The Banshees oder gar Manfred Mann´s Earthband. Erlaubt war, was gefällt und sich zu einem - und das ist nun der oben angedeutete Unterschied - sehr eigenen Stil verschmelzen ließ.
Die Extrempole, an dem der Begriff "Erotik" zur (schon wieder) Geschmackssache für Reisende in Sachen Sinnlichkeit wird, sind "billig-aufdringlich", wie etwa in einem Video von Modern Talking, oder "elegant-sexy" wie bei Massive Attack und ihrem "Daydreaming", womit ich endlich beim Leserwunsch angekommen bin. Das Stück basiert auf einem Song, den eben nur Kenner wie Massive Attack aus den Geheimratsecken ihrer Musikbibliothek hervorkramen konnten. Das Original wird hier gesamplet, verlangsamt und als Loop zum markanten Merkmal. Der französische Elektronikmusiker und mit Level 42 verbandelte Waliou Jacques Daniel Isheola "Wally" Badarou schrieb das zugrundeliegende "Mambo" 1984 und veröffentlichte es auf der LP "Echoes". In den angesagten Hype-Clubs, die mit House oder TripHop-artigen Styles agierten, war der Song Kult. Und genau in so einem Umfeld sind Massive Attack wohl auch auf den speziellen, tiefen Groove von "Mambo" gestoßen. Ob sie "Mambo" selbst entdeckt haben oder ob es einer ihrer Kumpel und Kumpelinnen war, wissen sie nicht mehr. Als "Daydreaming" jedenfalls wurde der Track zur ersten Single der Band und zum ersten Ausrufezeichen. Den Weg in die Charts fand der von der Stimme der singenden Songwriterin Shara Nelson geprägte Track nicht - aber wie ein schöner Tagtraum, der einen lange begleitet, blieb er einfach so hängen.
Der Sound, der die 90er prägte, kam nicht aus London, dem Moloch bzw. dem Poloch des Heuschreckenkapitalismus, sondern aus Bristol. Die Stadt im englischen Südwales ist etwas kleiner als "mein" Nürnberg, aber ähnlich unaufgeregt cool. Nur, daß Bristol eben doch näher am globalen Musikmarkt ist als die fränkische Metropole. Davon können etwa Stereo deluxe oder Wrongkong feine Liedchen singen. Doch zurück nach Brycgstow, wie Bristol - analog zu Nuremberga - im ortsansässigen mittelalterlichen Slang gekauderwelscht wird. Im vergleichsweise engen Rahmen einer Stadt mit knapp 500.000 Einwohnern fanden sich Menschen, die ähnlich dachten und musizierten: Der Produzent Nellee Hooper (Björk, Madonna, Massive Attack), Smith & Mighty - nicht zu verwechseln mit Smith & Wesson - oder auch Tricky bildeten gemeinsam mit Massive Attack den losen, nach einem blutigen Peckinpah-Western benannten Haufen The Wild Bunch. Diese Keimzelle des TripHop sollte stilprägend werden - für Morcheeba, Portishead und viele Menschen mit Geschmack.
Aber über den streiten wir nächste Woche weiter. Dann geht es hier um Herbert Grönemeyer und seinen Weg. Der ist übrigens nicht immer auch das Ziel, oft ist er einfach nur eine lästige Strecke, an deren Ende der Zahnarzt oder das königlich bayrische Amtsgericht warten. Und bei diesem Ziel ist man dann selber oft weg.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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