Kolumnen_ Linientreu #9
Die Formel gegen den Ausstieg
Wann haben Sie das letzte Mal einen Moment in stiller Kontemplation verbracht? Einen Augenblick innegehalten, Ihr Leben Revue passieren lassen, einfach vor sich hingestarrt? In den Öffis ist das einfach: Alles, was man dazu braucht, ist ein leerer Akku und ein starker Willen. 10.06.2013
Straßenbahn, U-Bahn, Autobus - die öffentlichen Verkehrsmittel (im Wiener Werbefirmen-Dialekt "Öffis" genannt) sind social ohne network, die dringend nötige Pause zwischen Streß im Job und Streß zu Hause, der bekanntlich viel interessantere Weg zum ohnehin immer gleichen Ziel. Nirgendwo sonst liegen Freud und Neid, Tanzschule und unterste Schublade, Hoffnung und Verspätung so eng nebeneinander. Und die Wahrheit lauert stets irgendwo im Spalt zwischen U-Bahntür und Bahnsteig. Vorsicht beim Einsteigen!
Es gibt nichts Schlimmeres, als unvorbereitet in die Öffis zu steigen. Mein Rucksack ist daher stets voll, wenn ich mich auf den Weg mache. Ich gehe streng nach Checkliste vor: ein halber Liter Wasser, ein Powerriegel, Geld, Paß - falls was Grenzwertiges passiert -; außerdem ein kleiner Regenschirm, ein zweiter Pulli, Erste-Hilfe-Minikasten, Schlüssel, Zweitschlüssel, Handy und ein Buch. Und wenn das Buch fast ausgelesen ist, ein Ersatzbuch. Schreiben Sie sich´s hinter die Ohren: Diese Grundausrüstung für urbane Abenteurer sichert das Überleben im Großstadtdschungel. Lächerlich, sagen Sie? Typisch Frau, meinen Sie? Folgende Zeilen beweisen das Gegenteil (von lächerlich, nicht von Frau).
Murphys Gesetz besagt, daß immer alles zusammenkommt. Also neigt sich zwar mein Buch dem Ende zu, die Fahrt leider nicht. Da kann man noch so lang beim Epilog verweilen, das Impressum lesen, den Buchrücken studieren, das Cover bewundern - wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Und das Ersatzbuch schlummert friedlich zu Hause neben dem Bett. Aber ich bin vorbereitet, fische mein Handy heraus und verbinde mich mit der virtuellen Welt. Etwas Musik, News schauen, hier ein Like setzen, dort ein bissiger Kommentar. Einnahmen/Ausgaben kontrollieren, eine SMS absetzen, zum nächsten Lied springen und dann - Akku leer.
In den Öffis gilt die eiserne Regel: um jeden Preis die Außenwelt vermeiden. Nur die komplette Abschottung verhindert das Eindringen des Wahnsinns. Deshalb greife ich in so einer Situation auf die absolute Notlösung zurück und ziehe unter meinem Hintern das hervor, worauf ich mich demonstrativ gesetzt habe: die Gratis-Zeitung. Die Nespresso-Kapsel unter allen Zeitungen bietet auch heute viel Müll für nix, schon die Schlagzeile deprimiert. "Horror-Mai!" Welterschütternd. Investigativ bis geht nicht mehr. Und immer mit Rufzeichen, da fühlt man sich gleich angeschrien vom Markt. Bevor mich irgendwo zwischen den Zeilen der Super-GAU Juni (!!) einholt, werfe ich die Zeitung quer durch die U-Bahn.
Langsam beginne ich, die Menschen rund um mich wahrzunehmen. Das ist schlecht, weil die Menschen dann auch mich wahrnehmen. Da, schon lächelt mich eine Frau an. Rasch aus dem Fenster schauen. Draußen nur Tunnel. Schnell einen Blick in das Buch meines Sitznachbarn werfen - "Psychische Störungen, Verhaltensprobleme und intellektuelle Behinderung: Ein integrativer Ansatz". Rasch Abstand nehmen.
Die U-Bahn kriecht. Die Minuten kriechen. Der Lurch kriecht. Wie lange sitze ich hier schon? Ich starre aus dem Fenster, das Fenster starrt zurück. Die Reflexionen anderer Leute geistern an mir vorbei. Sie sehen verhärmt aus vom Leben im Hamsterrad, wieder 9 to 5, wieder die ewig gleichen G´sichter im Büro, wieder stumpfsinnig in den Computer starren. Und draußen zieht das Leben vorbei. Leider zieht es sehr langsam vorbei, ich hab´ immer noch drei Stationen.
Ich habe irgendwann gelesen, daß wir alle ständig so beschäftigt sind, daß das Hirn nie zur Ruhe kommt. Genau das wäre aber wichtig zur Verarbeitung des Erlebten. Sensorische Deprivation ist der Schlüssel zum Erfolg. Ab in den Tank, kein Licht, kein Fernseher, kein Handy, keine Ablenkung, nur du und deine Gedanken. Das probiere ich gerne aus - wenn ich einmal tot bin. Aber ich bin nicht tot, ich hänge nur zwischen zwei Stationen, und die Wände rücken näher. Nur ich und meine Gedanken. Nur ich und meine Gedanken. Der Ground Zero der Langeweile ist erreicht.
Ich könnte aussteigen. Ich könnte zu Fuß gehen. Einfach weitergehen, nicht zur Arbeit, sondern weg. Vielleicht bis zum Bisamberg. Oder in die Praterauen, es ist so ein schöner Tag. Oder über den Tellerrand hinaus? Was, wenn ich einfach weitergehe, bis zum Stadtrand, zum Landesrand, zum Rand der Welt? Auf den Everest, in die Wüste, nach Kirgistan? Warum sitze ich hier? Was hält mich? Nichts. Dafür hält grad die U-Bahn in meiner Station. Und ich steige aus.
Sie sehen, Vorbereitung ist alles. Wenn Sie nicht aufpassen und den Kopf tief in den Alltag versenken, in ein Buch oder in die mediale Ablenkung, könnte alles passieren. Sie könnten morgen schon in der Todeszone des Mount Everest aufwachen. Oder Marco-Polo Schafe im Tianshan-Gebirge hüten.
Aber wenigstens haben Sie dann Ihren Paß mit.
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