Kolumnen_Linientreu #1
Bitte sich durchzulesen
Manche Leute wollen gescheiter wirken, als sie sind. Politiker und Beamte versuchen´s gern mit Schachtelsätzen - denn was so kryptisch daherkommt, muß ja intelligent sein. Niedere Kreaturen wir wir brauchen ganze zwei Minuten Denkzeit, bis die Satzschachtel ausgepackt, geöffnet, überprüft und dann im Sprachmüll entsorgt ist. Dabei könnte man das alles in wenigen, verständlichen Worten ausdrücken. So wie Nina Munk in der ersten Folge ihrer neuen Kolumne. 21.01.2013
Straßenbahn, U-Bahn, Autobus - die öffentlichen Verkehrsmittel (im Wiener Werbefirmen-Dialekt "Öffis" genannt) sind social ohne network, die dringend nötige Pause zwischen Streß im Job und Streß zu Hause, der bekanntlich viel interessantere Weg zum ohnehin immer gleichen Ziel. Nirgendwo sonst liegen Freud und Neid, Tanzschule und unterste Schublade, Hoffnung und Verspätung so eng nebeneinander. Und die Wahrheit lauert stets irgendwo im Spalt zwischen U-Bahntür und Bahnsteig. Vorsicht beim Einsteigen!
In unserem öffentlichen Verkehrsystem rätseln enorm wichtige und gescheite Menschen seit Anbeginn der Zeit herum, wie man ganz simple Dinge so komplex formulieren kann, daß sie am Ende garantiert keiner mehr versteht. Nur ein Beispiel: "Bitte sich festzuhalten". Prinzipiell halte ich mich ja gerne fest, meistens an der Grammatik, aber bei dieser Aussage hab´ ich schon ein wenig geschaut. Und nachgedacht. Solange, bis ich aussteigen mußte. Vielleicht soll das ja so sein, weil auf andere - blöde - Gedanken bin ich angesichts dieser kreativen Schreibweise gar nicht mehr gekommen.
Man muß ihn sich auf der Zunge zergehen lassen, diesen Infinitiv. Impliziert er vielleicht den Aufruf zur Selbstbeschmusung? Soll die Aussage lauten: Halte dich an dir selbst fest, weil kein anderer dich auffängt? Oder sollen wir uns aneinander festhalten, jeder an seinem Nächsten, egal, ob Fremdling oder Freund, weil der andere ja so schnell entschwindet, hinausgeht in die Welt und uns allein zurückläßt, sobald sich die Türen schließen? Ist das was Philosophisches? Man weiß nichts Genaues.
Könnte auch sein, daß der Satz eigentlich lauten sollte: "Wir bitten Sie, sich festzuhalten." Das ergibt Sinn, aber war Sinn im Sinne des Erfinders? Oder sind ihm die Sparmaßnahmen in die Quere gekommen, und ein Satzteil wurde Opfer der Arbeitslosigkeit?
Es geht aber auch einfacher - ich darf kurz ...? Man streiche "sich", man pinsle über das "zu" und voila: "Bitte festhalten!" Darüber würde natürlich keiner nachdenken, jeder würde es einfach tun und das Genie hinter diesen Worten völlig ignorieren. Wo wäre da der Spaß?
Eben. Also klammern wir uns weiter fest an einer Verschachtelung und ergänzen sie mit einer anderen, ebenso gefinkelten: "Bei Haltewunsch bitte Druckknopf betätigen". Eigentlich will ich nur aussteigen - aber ob das wirklich mein sehnlichster Wunsch ist? Wenigstens sind sie immer höflich im öffentlichen Raum, obwohl behindertenfeindlich, wenn es darum geht, "die Tauben nicht zu füttern", oder beim "Zurückbleiben". Das haben sie aber mittlerweile schon selbst eingesehen: Niemand will zurückbleiben. Vielleicht nur zurücktreten? Und wenn wir zurücktreten, treten wir dann auf die Tauben oder treten wir auf den Autor ein, der mit seiner verdrehten Orthographie ein Zurückbleiben erst möglich macht? Und wie sollen wir den Menschen, die in unser schönes Land kommen, unsere Sprache verständlich machen, wenn sie uns selbst so schwer gemacht wird?
Mein Appell: KISS. Anders gesagt: Keep it short and simple. Nur so verstehen wir einander, und nur so verstehen wir die Anweisungen von oben und können dementsprechend reagieren, zum Beispiel die Türnotbetätigung ... äh ... betätigen. Oder Sitzplätze denjenigen überlassen, die sie notwendiger brauchen. Und was ist daran nicht zu verstehen? Sind Sie vielleicht nicht gescheit genug? Bitte sich weiterzubilden.
Kommentare_
Mystische Hinweise - auch bei der Deutschen Bahn:
"Dieser Zug hält nicht überall!"
Wie wohl ein Zug aussieht, der "überall" hält ?
Alle solche auf dem einen oder anderen Umweg aus dem Steuersäckel beglichenen verschwurbelten Botschaften auf Werbeflächen, die heute mangels privatwirtschaftlicher Nachfrage ansonsten leer blieben, dienen unserer Abwatschung als Plebs.
E. g. von der bundesdeutschen Verkehrswacht aufgestellte überdimensionale Warnschilder oder Autobahnplakate wie "Wild gewechselt", "Hallo Raser, wir warten" mit vier auf einem Ast sitzenden Geiern, "Wir vermissen dich!" mit einer Rose darunter, "Finger vom Handy" mit Smiley, "Lass Dir Zeit" mit dem Lippenstiftabdruck eines Kußmunds, "Fahr nicht so schnell" mit aufgemaltem Herzchen, Motive im Stil von Kinderzeichnungen, Lkw-Designs wie "Papi, fahr vorsichtig" oder gar solche mit der unmißverständlichen Aufforderung, Fahrfehler unter der und der Telephonnummer zu melden, undsoweiter undsofort.
Mündige werden gegängelt und bevormundet wie Kindergartenkinder, nach der Devise: "Wir meinen es doch nur gut!" - Na, vielen Dank auch ...