Depeschen aus der Provinz
Peter Hiess lebte mehrere Jahrzehnte in Wien. Dann entschloß er sich, in die Provinz zu übersiedeln. Wie sich das anfühlte, erfahren Sie hier.
Unseren Kolumnisten hat es nicht nur aufs Land verschlagen, sondern auch in eine Gegend, wo man mit Abweichlern anders umgeht. Nur mit ihm nicht. Wer sich noch an die Bizarro-Welt aus den alten Superman-Heften erinnert, der weiß, was gemeint ist. Curiouser and curiouser ... 23.10.2019
"Was führt Sie denn zu mir, Herr Hiess?"
"Ihr Firmenschild. Und der Doktor vor Ihrem Namen - auch wenn Sie den wahrscheinlich für eine Pseudowissenschaft wie Finno-Ugristik geschenkt bekommen haben. Aber der Rest ihrer Kollegen und vor allem -innen hat´s ja nicht einmal zum Magister geschafft, die scheinen eher hobbymäßig ins Lebenshilfegewerbe eingestiegen zu sein. Überhaupt habe ich noch nie so bedrohlich viele Therapeuten gesehen wie in der Provinz: Paarberater, Familienaufsteller, Psychosomaten, Traumatologen, Nekromantiker und Logopäderasten. Sind denn hier alle verrückt?!"
"Es gibt eben viele Menschen, die Hilfe brauchen - so wie Sie wahrscheinlich auch."
"Papperlapapp, Hilfe! Es geht mir nur darum, daß sich jemand meine Erlebnisse in dieser Kleinstadt anhört. Und bei Prostituierten zahlt die Kassa nix drauf."
"Ein häßlicher Vergleich. Hat man Ihnen schon einmal gesagt, daß Sie ein schrecklicher Charakter sind?"
"Dauernd. Vielleicht fühle ich mich deshalb so verloren dort, wo ich jetzt wohne. Aber kommen wir zur Sache. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein Heuriger unter einer Brücke. Ich sitze bei einem Gläschen Wein im gemütlichen Salettl neben der Bundesstraße. Zwei Tische weiter ein Mann mit dem verblaßten Charme eines B-Film-Schurken aus den späten 40er Jahren, der eifrig dem Rebensaft zuspricht und dabei gelegentlich in sich und ein Alibihandy hineinlacht. Wie sich anhand seines vor dem Haus geparkten Lieferwagens herausstellt, handelt es sich bei ihm um den legendären 'Tapeten-Schmock', der seit gut zehn Jahren seine Pension wegtrinkt. Irgendwann kommt besagter Schmock auf die fragwürdige Idee, mir seine bedenklich angeschwollenen bloßen Beine aus nächster Nähe zu zeigen. 'Wasser in die Fiaß', sagt er und streicht sich mit einem mißlungenen Gentleman-Gauner-Grinsen über den ergrauten Schnurrbart, unter dem ihm immer noch die Fleischeslust hervortrenzt. Als ihm aufgeht, daß er so auch keinen Riß machen wird, retiriert er zu seinem Tisch und ruft weitere imaginäre Freunde an."
"Na ja, sicher ein tragischer Fall. Aber sowas werden Sie doch aus der Großstadt kennen."
"Es geht noch weiter. Plötzlich kommt aus den Sträuchern neben dem Fluß eine dunkle Erscheinung geschwebt, wie eine ausgetrocknete Undine in Gruftikleidern aus den Achtzigern. Sie nimmt am Tisch zwischen Tapeten-Schmock und mir Platz, bestellt sich ein Achtl und dann noch ein paar, starrt versonnen vor sich hin und gibt ohne erkennbaren Anlaß Laute des Entzückens oder der Verzweiflung von sich. Hmmmm .... ooooooh ... m-mm-mm! Es dauert keine Viertelstunde, bis ich wegen dieser von zwei Seiten geführten Attacke Hirnsausen kriege. Ist Wahnsinn ansteckend, Doc?"
"Herr Doktor, bitte. Nein, so etwas ist nicht ansteckend. Außerdem urteilen Sie vorschnell über diese armen Leute, die ich zufällig kenne. Der Herr Schmock zum Beispiel ..."
"Jetzt kommt sicher gleich wieder der haarsträubende Unfug, der mir seit geraumer Zeit so aufstößt! Wenn einem solche Narren in Wien begegnen, fragt man sie: 'Hast an Pascha oda wos?' und hält Abstand. Hierorts aber ist jeder, der eindeutig gegen mehr als eine Wand gerannt ist oder sich schlicht schlecht benimmt, irgendwie arm und hat ein gar schreckliches Schicksal hinter sich, vielleicht, weil er in seiner Kindheit von den Eltern nicht ordentlich mißbraucht wurde, und dann schauen alle betroffen zu Boden und trauen sich nichts sagen. Man fühlt sich wie in einem Freiluftsanatorium."
"Erzählen Sie weiter."
"Sowieso. Meine Argumentationskette ist ja noch lange nicht zu Ende. Also: Wenn man den beliebtesten Italiener vor Ort aufsucht – der sich auch nur so nennen darf, weil der Chef zweimal Urlaub in Lignano gemacht hat –, wird man nach Einbruch der Dunkelheit unwirsch behandelt und kriegt angebrannte Pizza, weil um zehn Sperrstunde ist. Die Provinzbürgerschaft schweigt auch dazu und läßt es sich gefallen. Geht man hingegen zum Würstelstand am Donaustrand, so sieht man dort ein Schild 'Fahrräder nicht anlehnen'. Und darunter die Übersetzung: 'Wheels do not lean'. Und niemand wundert sich; keiner nimmt eine Gitarre zur Hand und macht einen Donovan-Text daraus: 'Wheels do not lean, they just drive, to the mystic lands of Dementia' ..."
"Sagen Sie, Herr Hiess: Nehmen Sie Drogen?"
"Gern. Was haben Sie denn da?"
Der Doktor öffnet seinen Giftschrank. Endlich.
Depeschen aus der Provinz
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