Kolumnen_Kolumnen, die die Welt nicht braucht #32

Kreative Menschen haben kurze Haare

In meiner heutigen Kolumne geht es um nichts Geringeres als die philosophische Stellung des Menschen im Gefüge der Dinge - sowie um den Sinn des Lebens und die Frage, warum man zum Friseur gehen sollte.    01.11.2011

Die "Schreibblockade" ist wirklich die lächerlichste Erfindung, die die formulierende Zunft je hervorgebracht hat. Stellen Sie sich vor, Sie wären Maurer und würden einen Ziegel auf den anderen legen, frisch geremixten Mörtel dazwischenschaufeln, Estrich-Rezepte studieren und dergleichen mehr, was Maurer eben (vermutlich) sonst so tun. Eines Tages kämen Sie auf eine neue Baustelle; Familie Ebersbrunner würde ihre Wünsche formulieren, der Architekt seine blödsinnigen Ideen betonen, und der Zimmermann Ihnen freundlich zunicken – nur Sie würden sich den leeren Baugrund ansehen und dann zu allen Beteiligten sagen:

 

- Sorry, Leute. Ich kann das nicht. Dieser leere Baugrund, also wirklich, das macht mich einfach fertig.

- Und wenn Sie einfach den ersten Ziegelstein hinlegen würden? ... dann wäre doch ein Anfang gemacht!, brummelt dann später auf der Couch die Psychologin über Pfeife und Lesebrille hinweg.

- Sagt sich leicht, Frau Dr. Psycho-Quack. Aber wohin soll ich den ersten Ziegelstein legen? Welchen der Ziegelsteine von der Palette soll ich verwenden, sie sehen alle so gleich aus. Und was ist, wenn ich mich falsch entscheide?

 

Und so weiter. In einem solchen Fall empfehle ich den Friseursalon. Das ist heutzutage ein Ort mit einem lustigen Namen wie "Edward mit den Scherenhänden", "Philhaarmonie", "Pearl Haarbor" oder "Final Cut Pro" (mit Kassen-Mac), dessen Inneneinrichtung suggeriert, man befände sich in einer New Yorker Galerie für zeitgenössische Kunst. Hier verdienen Menschen Geld damit, Ihr noch nicht wegevolutioniertes Fell neu anzuordnen und dabei mit Ihnen über die Sex-Skandale aktueller Kurzzeit-Promis zu parlieren. Der Input sprengt oft Grenzen, ich erinnere mich an einen Friseur, der angeblich jede Woche eine andere Dirn flachlegte sowie an einen anderen, der Hüte sammelte - die Details erspare ich Ihnen jeweils. Ich persönlich neige daher neuerdings zum Schweigen. Moderne Hair-Stylisten merken das schnell und schweigen zurück. Der Preis bleibt allerdings meist der gleiche, hier sollte die EU-Gesetzgebung bald einmal einschreiten.

 

"Wenn ich mir die Haare schneiden lasse", äußerte sich angeblich Karl Kraus, "so bin ich besorgt, daß der Friseur mir einen Gedanken durchschneidet." Hier irrte der Aphoristiker. Denn als wäre dieser magische Ort des Haare- und Gedankenkürzens nicht kurios genug, sind Sie die ganze Zeit über gezwungen, einem alten, grauen, fetten, faltigen Sack ins gelangweilte Gesicht zu schauen. Jedenfalls in meinem Fall.

In Ihrem Fall sehen Sie ganz gewiß einem jungen, erfolgreichen und dynamischen Menschen ins lebenslustig leuchtende Gesicht, aber gelangweilt ist es natürlich trotzdem. Und letztlich können Sie noch so gut aussehen - nach zehn Minuten stumpfen Starrens in den Spiegel wird selbst das schönste Antlitz faltig und asymmetrisch. Denn wir alle sind irgendwo häßlich, tief in uns drin, und der Friseurspiegel ist, da wir ihn durch unsere Augen betrachten, ja irgendwie auch ein Spiegel der Seele. Die summenden Leuchtstofflampen an der Decke und die grelle Direktbeleuchtung ins Gesicht tun ihr übriges.

Aber, und damit kommen wir zum Punkt, die stumpfsinnige Langweile zwingt Sie dazu, sich Sachen auszudenken - ein Druck, den man vom Gedankenverhinderungs-Fernsehen à la "CSI" so nicht kennt. Zum Beispiel, wo Sie als Maurer den ersten Ziegelstein hinlegen könnten. Anders gesagt: Gelangweilt beim Friseur zu sitzen macht Sie ungeheuer kreativ. Probieren Sie es aus! Wenn Manager bei Edward de Bono (oder bei mir) für ungeheuer viel Geld Kreativitätsseminare buchen, dann sind sie immer ganz überrascht, daß man sie in einen Friseursalon führt - und dann einen Kaffee trinken geht, während sie, die Kursteilnehmer, im Spiegel ihre schlechte Haut anstarren und dabei im Geiste das kreativdenkende Äquivalent zur finalen Szene in "Casino Royale" (die alte Version mit David Niven als Bond) erleben, während man ihnen die Wolle schert.

Natürlich geht das nicht immer ohne Probleme.

 

- Wollen Sie nicht endlich meine Haare schneiden, statt hier Ihre Bürsten von links nach rechts zu räumen?

- Würde ich ja wollen ... aber welche Locke zuerst? Nehme ich die Modellierschere oder die Effilierschere? Herrje, ich glaube, ich habe eine Schneidblockade ...

 

Dieses hastige Herumräumen kennt man, es ist eine Vermeidungstaktik. Statt endlich ein weiteres Land in den Ruin zu raten, beschäftigt sich der blockierte Börsianer mit Nebensächlichkeiten, räumt auf, läßt das Parkett ein, wischt endlich auch einmal die Steckdosenoberseiten ab oder fischt die Haare aus dem Abfluß – derlei schiebt man ja schon seit Monaten vor sich her, und Rohrreiniger ist keine Lösung. Oder vielleicht doch? Am besten einmal lesen, was Verbraucherzeitschriften dazu schreiben, danach ein Abflußfrei-Preisvergleich im Internet ...

Speziell der Schneidblockierte putzt Bürsten und Scheren; der Baublockierte ist mit der Konsistenz des Putzes nicht zufrieden und rührt ihn in immer cremigere Zustände, spritzt die Schubkarren ab oder sandelt anderweitig herum. Die Vermeidungsstrategien sind so vielfältig wie die Geschmacksrichtungen von Kartoffelchips.

 

Eine weitere gute Methode zur Vermeidung des Eigentlichen ist das Sammeln von Informationen. Coiffeure fragen nach, wie man es denn haben wolle. "Hart und schmutzig" ist dann eine Antwort, die vor allem junge, hübsche Kreatin-Ingenieurinnen ungern hören wollen, daher sage ich stets Dinge wie "Hinten kurz, oben quer über die Platte legen, aber so, daß es ganz natürlich und jugendlich und männlich-maskulin aussieht", woraufhin dann ewig Sonderfragen zu Augenbrauen, Koteletten (allein das Wort!) oder dem Bedarf an Gel (für was halten die mich?) folgen, die alle nur dazu dienen, nicht anfangen zu müssen. Der Maurer betrachtet indes höchst kritisch die Luftblasen in den grünen Wasserwaagen-Flüssigkeiten und faltet Konstruktionszeichnungen auseinander und wieder zusammen, deren Komplexität jeden Todesstern-Bauplan wie einen Cartoon aussehen läßt. Er mißt daher dann dieses oder jenes nochmals sicherheitshalber mit dem Zollstock nach. Man könnte sich ja vermessen haben, schließlich gilt im Handwerk die Regel: "Wer viel mißt, mißt Mist", was bedeuten soll, daß auch der Petersdom gebaut wurde, ohne daß man CAD-Programme mit 3D-Scannern auf dem iPhone hatte.

Der Kolumnist sammelt indes Material. Ich zum Beispiel bereite seit Jahren diese Kolumne über die philosophische Stellung des Menschen im Gefüge der Dinge sowie den Sinn des Lebens vor und fand angesichts des weißen Blattes virtuellen Textprogramm-Papiers, daß man sich nicht ohne ein gewisses Grundgerüst an so ein Thema wagen darf. Daher habe ich beschlossen, mich einzulesen, also alle Philosophen zu studieren, die zum Thema etwas zu sagen hatten. Natürlich im Original, ergo zunächst einmal die Griechen in Altgriechisch. Wofür durchaus Kurse angeboten werden, sogar online, allerdings zu verschiedenen Preisen. Das Angebotsdickicht ist eine echte Herausforderung, bei der man nicht vorschnell zugreifen sollte, sonst wird man betakelt.

Weshalb die Kolumne über die philosophische Stellung des Menschen im Gefüge der Dinge sowie den Sinn des Lebens noch einige Zeit auf sich warten läßt. Bitte haben Sie Geduld.

 

--

Gegen jede Gewohnheit paßt das Bilderrätsel heute zum Text, weil es paßt:

Was kommt als nächstes? Der Bachelor of Hair Arts? Enterprise Hair Consultants? Hair Rating Agencies? Empfehlungen der World Hair Organisation?

Andreas Winterer

Kommentare_

Kolumnen
Kolumnen, die die Welt nicht braucht #55

Aussterben, Toxoplasma gondii & Coronuminatus!

Das Ende war verführerisch nah, aber leider geht die Welt schon wieder nicht unter. Irgendwie mindestens teilbedauerlich. Eine Bestandsaufnahme mit tagebuchartigen Einsprengseln und völlig unbegründeten Hawaii-Erwähnungen.  

Kolumnen
Kolumnen, die die Welt nicht braucht #54

Ulysses versus Bonanza

Einsames Aufräumen ist das gemeinschaftliche Feiern unserer Zeit. Entsprechend miste auch ich ununterbrochen aus - Medien zum Beispiel, weil die sowieso verzichtbar sind. Vor allem Bücher werden völlig überschätzt.  

Kolumnen
Kolumnen, die die Welt nicht braucht #53

Sie müssen heute mal ohne diese Kolumne auskommen

Einige wenige Wohlgesonnene, es werden wöchentlich weniger, warten seit gefühlten Äonen auf diese neue Kolumne - und dabei wird es auch bleiben, und ich rate sowieso ab.  

Kolumnen
Kolumnen, die die Welt nicht braucht #52

Entfolgen: einer der wenigen Vorteile des Alters

Immer wieder ist von junger Literatur die Rede, und wenn davon die Rede ist, dann nicht von uns. Und das ist nur einer der vielen Vorteile des Alters, über die unser gealterter Star-Kolumnist Sie heute informieren wird.  

Kolumnen
Kolumnen, die die Welt nicht braucht #51

Kolumnist schreibt erstmals was zu K2-18b auf unnötigen Kanälen

Wenn Sie nicht wissen, was "Social Media" oder "K2-18b" sind, dann können Sie eigentlich gleich aufhören zu lesen. Aber auch sonst raten wir wie immer von der Lektüre dieser irrelevanten Kolumne ab, in der es zwar heute mal um was geht, aber um nichts Wichtiges.  

Kolumnen
Kolumnen, die die Welt nicht braucht #50

Das Leben ist ja doch ein Ponyhof!

Immer wieder fallen uns Sprachzombies mit halbverrotteten Phrasen an. Zumindest dieser einen sollten wir einen Headshot verpassen.