Kolumnen_Miststück der Woche II, Pt. 76

Kiss: "Russian Roulette"

Aus welchen Löchern kommen die denn plötzlich gekrochen? Das fragt sich Manfred Prescher - und wundert sich darüber, daß der Trash von einst immer noch Spaß macht.    02.11.2009

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Dialog nach der Kindertheatervorstellung:

 

Seppl: "Kasperle, warum machen wir das eigentlich?"

Kasperle: "Was denn, Seppl?"

Seppl: "Na, wie Deppen angezogen über eine winzige Holzbühne toben, als wären wir gerade mal zehn Jahre alt."

Kasperle: "Weil die Kinder uns immer noch lieben!"

Seppl: "Und darum schminkst du dich immer noch so gräuslich?"

Kasperle: "Ja, genau. Aber sag, Seppl, warum machst du den Quatsch immer noch mit?"

Seppl: "Mir fällt nur ein Grund ein: Ich kann nichts anderes ..."

 

Wie Kasperle und Seppl geht es vielen, die sich vor Jahr und Tag schon für ihre Fans zum Affen machten. Etwa den Herren Gene Simmons und Paul Stanley, die sich seit 1973 hinter ihren Masken verstecken. Simmons gibt "The Demon" und Stanley "The Starchild". Die beiden anderen Kiss-Gründungsmitglieder Ace "The Spaceman" Frehley und Peter "The Cat" Criss haben sich längst auf das Altenteil oder in die Kiste für altgewordene Puppen verabschiedet - auch weil zwischen den frühen siebziger Jahren und heute nicht nur viele große Erfolge ("Beth", "Detroit Rock City", "Calling Dr. Love", "God Gave Rock´n´Roll To You" oder "I Was Made For Loving You"), sondern auch jede Menge Streitereien zwischen den Mitgliedern der Urbesetzung liegen. Da sich aber die Masken nicht geändert haben und der Hardrock von Kiss nicht unbedingt als filigran zu bezeichnen ist, fällt es nicht besonders auf, daß sich Simmons und Stanley zwei andere Mitstreiter gesucht haben.

Interessant ist eher die Frage, warum die Band nach dem letzten, eher mauen Lebenszeichen "Psycho Circus" von 1998 wieder ins Studio ging. Während nämlich Kasperl und Seppl auf den Puppenbühnen um jeden einzelnen Taschengeld-Cent kämpfen, weil man auch als greiser Kinderstar ein warmes Bett und eine heiße Mahlzeit braucht, haben es Kiss nicht nötig zu arbeiten. Ihre Gassenhauer wurden, wenn ich das richtig zusammenaddiert habe, allein von 2000 bis heute auf zwölf "Best of"- und "Live"-Zusammenstellungen veröffentlicht. Es ist davon auszugehen, daß sich die Hits auch im zigsten Aufguß prima verkauft haben ...

 

Wahrscheinlich machen Kiss das, was sie machen, weil sie nichts anderes können. Und weil es wahrscheinlich sterbenslangweilig ist, daheim herumzusitzen und versonnen in den Reibach zu blicken, der hinter dem Haus vorbei in den eigenen Geldstrom fließt. Deshalb werden die Streitäxte ausgepackt und der Glam-Metal der 70er Jahre neu aufgelegt - was erstaunlich frisch und kregel wirkt. Das neue Album "Sonic Boom" ist genauso trashig wie "Destroyer" oder "Love Gun", lädt also dazu ein, daß alte Säcke die wenigen verbliebenen Haare schütteln, während sie wie früher auf der Luftgitarre imaginäre Soli spielen und selber alberne Verrenkungen vollführen. Schließlich wäre jeder Mann, der zur Hochphase von Kiss ein adoleszenter Jüngling war, gern ein Mitglied der verkleideten Rock-Rächer gewesen: Das pickelige Gesicht hinter einer Maske verstecken und Leute mit Hühnerblut bespucken, das hat doch was ... Kasperle kann schließlich anderen seine Verachtung zeigen, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden, von wegen Hoffnarrenstatus und so.

"Russian Roulette" ist einer der neuen Songs, der so klingt, als hätte ich ihn anno ´76 in der Fürther Grundighalle schon live gehört. Den kann man sich auch bei Hugo Egon Balders "Die 50 besten Rock-Hits aller Zeiten" oder einer ähnlichen Show vorstellen. Dazu erzählen dann irgendwelche B-Promis, wie sie damals vor dem Spiegel an der imaginären Klampfe übten. Nur, daß das Stück damals "Detroit Rock City" und nicht "Russian Roulette" hieß. Wie sagte schon Prince: "I just want your extra time and your . . . kiss" - und genau das ist es. Hin und wieder wirkt ein Kiss halt einfach wie ein Jungbrunnen. Ein albernes, läppisches Kasperltheater bleibt die Band natürlich auf ewig, aber das muß unseren Spaß nicht schmälern. Der Mensch hat schließlich ein Grundrecht auf Schund.

Nächste Woche wird es an dieser Stelle übrigens etwas ernsthafter zugehen - dann widme ich mich nämlich Johnny Cashs Tochter Roseanne.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Kiss - Sonic Boom

(Photo © www.kissonline.com)

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