HAIM - Up From A Dream
Photos: © Universal Music
Der Sommer kann mich mal – sagt Manfred Prescher: Wenn eine luftig-schöne Platte wie "Women In Music Pt. III" erscheint, dann beginnt so oder so die beste Jahreszeit. Aus den vielen Perlen des Albums hat sich der Kolumnist eine herausgepickt. 05.08.2020
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
Es war wie am Anfang des Songs "Up From A Dream": Mit einem gewaltigen Gähnen wachte ich auf - und die Welt hatte sich verändert. Gut, das klingt im Lichte des späten Morgens dann doch heftiger, als es tatsächlich war, aber ein Körnchen Wahrheit ist schon drin. Nach einer Woche, die ich fiebernd in meinem Prokrustesbett verbracht habe, mußte ich erkennen, daß die beste Liebespartnerin von allen tatsächlich für mich gearbeitet hatte. Nicht, daß ich zu ihr gesagt hätte "Schreib bitte meine Kolumne", denn das hätte - und hat sie vorher auch schon mal - abgelehnt. Sie ist ganz von selbst draufgekommen, das zu tun. Und ich habe jetzt den Spott der Mitleser zu ertragen. Aber mal im Ernst: Danke der Nachfragen, mir geht´s gut, und an ein nahes Ende dachte ich wirklich nur ganz selten. Das war doch für den Autor und auch für euch da draußen eine gelungene Abwechslung inmitten von knapp 400 von mir selbanderweise verfaßten Miststücken. Sie hat das gut gemacht, aber davon bin ich ohnehin - jetzt und immerdar - ausgegangen. Also bedanke ich mich recht herzlich für die Kolumne, die Teeaufgüsse und das häufige Ausschütteln meines Kissens.
Wie komme ich denn nun von der besten Liebespartnerin aus zu HAIM? Das ist eigentlich ganz einfach. Erstens mag sie die Band aus El Äi und zweitens hat auch das Geschwistertrio längst gezeigt, was es draufhat - nämlich jede Menge. Danielle, Alana und Este Haim machen intelligente Popmusik und wurden dafür früh gehypet. Völlig zu Recht zwar, aber die Karriere folgte den hymnischen Vorankündigungen nur bedingt und eher von Großbritannien als von der amerikanischen Heimat aus. Beirren ließen sich die Haim-Damen dadurch nicht. Weil es "Women in Music" immer noch schwerer haben als die Ed Sheerans dieser Welt und weil sie - im Gegensatz zum "famous Mr. Ed" - nicht sofort mit ihrer Musik in Verbindung gebracht werden. Wie Este in verschiedenen Interviews betonte, wollte man sie auf das Aussehen reduzieren und in Schubladen stecken, in die schon die Spice Girls oder Lana del Rey nicht hineingesperrt werden wollten. Die Schwesternschaft spielt mit den niederträchtigen Anforderungen des männlich dominierten Entertainment-Geschäfts und läßt sich auch im Bikini fotografieren. Ihre mürrischen Blicke dabei sorgen für eine vollkommene Ent-Erotisierung. Bei HAIM geht es in allererster Linie um Musik - und zwar um sehr, sehr gute.
Dank der Interviews von HAIM wissen wir nun nicht nur, daß die Schwestern mit Coverversionen unter anderem von Fleetwood Mac anfingen, ihr Handwerk zu verfeinern. Nein, wir haben auch erfahren, daß der Nachname "Hai-em" ausgesprochen wird. Das erinnert schon an die Blues Brothers und die Flucht aus "Bob´s Country Bunker", wo Elwood den Bandbus der an diesem Abend eigentlich vorgesehenen Good Ole Boys - nun ja - bearbeitete. Womit? Mit Recht! Und mit dem Einsatz einer bewährten Substanz - "Das ist Lei-Em, starker Stoff!". Das "Em" verleiht auch HAIM den angemessenen Nachdruck, auf daß der Name haften bleibt. Den Rest übernimmt dann die Musik. Und die ist mittlerweile erwachsen geworden, was aber nicht heißt, daß sie ihren Charme verloren hätte, denn der ist ebenfalls den Kinderschuhen entwachsen. Und das bedeutet auch, daß "Women In Music Pt. III" das Trio auf der bislang höchsten Stufe seines Könnens als Songschreiberinnen und Musikerinnen zeigt. 16 perfekte Popsongs, drei davon als "Bonustracks", was aber heute keine Rolle mehr spielt, bewegen sich zwischen Fleetwood Mac, Janelle Monáe oder Vampire Weekend und vielem mehr. Doch die Lieder verneigen sich nicht andächtig vor anderen, sondern sagen mit jedem Ton: "Wir lieben euch, aber wir sind HAIM oder HAI-EM - und wir machen unser Ding." Der Bezugsrahmen ist nun so groß und er wird so gefüllt, wie es die sehr hohe künstlerische Intelligenz zuläßt.
Ja, "Women In Music" ist die Platte für den Sommer. Es hätte schon die für den des letzten Jahres sein können, dafür stand der erste, schon im Juli 2019 veröffentlichte Track "Summer Girl". Von "Single" will ich in diesem Zusammenhang nicht sprechen, denn von diesem ebenso physischen wie längst völlig unnützen Format werden in Deutschland aktuell nur noch 300.000 Exemplare per anno verkauft. Das hat früher manche echte 7" oder Maxi-CD ganz allein und in einer Woche geschafft. Aber die Zeiten ändern sich. Heute wird im virtuellen Strom herumgeschippert, was der Router oder das LTE-/5G-Netz so hergibt.
Um auf HAIM zurückzukommen: Seit die Ladys vor einem Jahr das sehr hübsche "Summer Girl" auf uns losließen, folgten noch sage und schreibe fünf weitere dieser Pseudo-Singles - und jede davon hielt die Qualität nicht nur, sondern es schien fast so, als sei jeder Song - von "Now I´m In It" über "The Steps" bis zum Ende Mai auf der Bildschirmfläche erschienenen Vorablied "Don´t Wanna" - noch besser als der zuvor. Aber das täuschte. Wenn man das herrliche halbe Dutzend hintereinander weghört, merkt man, daß sie alle klasse waren.
Daß es bis zum Release des kompletten Albums sechs Vorabirgendwasse dauerte, hat nun aber nicht allein mit veränderten Hörgewohnheiten in der immaterial world zu tun, sondern mit - Überraschung - Covid 19. Alben wurden seit Pandemie-Beginn zuhauf verschoben. Man sollte annehmen, daß die Menschheit, gerade, wenn sie zu Hause zu bleiben hat, gern und viel Musik hören möchte. Das mag tatsächlich stimmen, aber mit dem Verkauf von Tonträgern oder Streamings wird kaum noch Geld verdient. Tourneen bringen die Butter aufs Brot, auch im Hause HAIM. Und die Konzertreisen sind alle ausgefallen, was nicht nur für die Geldbeutel der kalifornischen Schwestern schade ist - sondern auch für uns. Denn HAIM muß man live erlebt haben, und man darf auf die Umsetzung der neuen Songs gespannt sein.
Aber erstmal bleibt uns ja die CD oder der Stream via Spotify. Mit "Up From A Dream" aufzuwachen, hat was: ein langes Gähnen, ein Seufzer - und dann streckt man freiwillig die noch müden Glieder dem Tag entgegen. HAIM sind schon munter. Nicht übertrieben aufgedreht, das wäre der Morgenstund´ ohne Kaffee im Mund und dem Kreislauf gegenüber doch unangemessen. Aber verhalten optimistisch darf man schon aus der Nachtwäsche schauen - und einen hoffentlich herrlichen Traum nachwirken lassen: "I was dreamin´ again, you were there with me/We were in the beach runnin´ in the sea/You pointed to a sign but in dreams you can´t read/And in that moment I snapped again." Genau: Man soll schöne Erinnerungen gut festhalten, Este und ihre jüngeren Schwestern helfen uns dabei.
Nächste Woche erinnere ich mich auch wieder für euch - und zwar an die Hochzeit von TripHop und den Sound von Bristol. In der Kolumne geht es dann nämlich um Tricky. Aber nicht nur, sondern - wie immer - auch. Bis dahin, spart nicht mit dem Lei-em, haltet das Mädel oder den Jungen, die oder den ihr liebt, fest. Und hört dabei HAIM.
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