Kolumnen_Fundamentalteilchen 2/402: Mit der Matschbirne am Tag danach

Wenn der Kopf lahmt

Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die zweite Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. The Electric Family und "What Is In Your Head, Fred?"    16.09.2020

Das macht Hannes, der Barkeeper vom "A Thousand Miles to Dublin" öfter - oder doch zumindest dann, wenn er das Gefühl hat, der Gast müßte mal was vergessen. Er tut was ins Bier. Hinterfotzig ist das, aber auch nötig. Warum? Da muß ich kurz mal meine sieben Zwetschgen sortieren und etwas ausholen:  In "I can´t forget, but I don’t remember what" besang Leonard Cohen den Zustand, wenn man nicht mehr genau weiß, was man eigentlich in der Denkmurmel an Erinnerungen mit sich herumschleppt.

 

 

 

Der Zustand beschreibt das Gegenteil von Sinatras "In The Wee Small Hours", also der Zeit vor dem Tagesanbruch. Wenn man kurz pinkeln war oder sowieso wegen ausgeprägter Schlaflosigkeit wach ist, sind die Erinnerungen so präsent, daß sie wie ein Film in Farbe und Cinemascope hinter den Triefaugen ablaufen. "That´s the time you miss her most of all" konstatiert der lebenserfahrene Frankieboy völlig zurecht.

Speziell, wenn der Mond mehr zugenommen hat als Robbie Coltrane für seine Rolle des Dr. Eddie Fitzgerald in "Cracker", wird die Vergangenheit auch noch extra ausgeleuchtet. Hannes weiß das, und er weiß auch, wie er seine Stammkunden über diese Momente der Sehnsucht hinwegbringt: Er mischt einfach in jedes Kilkenny eine ordentliche Prise Rausch hinein. Wenn dann die Sperrstunde gemeinsam mit den "wee small hours" in Bierseligkeit vertrunken ist, also der Tag kommt und Johnny Walker geht - oder besser heimwankt, sein Schlüsselloch sucht und dann in voller Ausgehmontur ins Koma fällt -, dann hat Hannes seine Pflicht erfüllt. Weil er sich rührend um Menschen sorgt, die gerade erst die beste Liebespartnerin von allen an einen fernen Stern oder an sonstwas verloren haben, gibt er dem Gast, also mir, einen Begleitaffen und einen Schutzengel mit auf den Nachhauseweg: "Es könnte dir ja sonstwas passieren", ruft er noch hinterher. "Sonstwas" hat sich als Wort des vergangenen Abends erwiesen.

Irgendwann wache ich wieder auf - und blicke verschwommen auf die Szenerie: ein umgeworfener Stuhl, der wohl beim Wanken und Schwanken im Weg war, Spuren eines allerspätestens seit gestern vergangenen oder weggegangenen Lebens. Oder sonstwas. Eben. Einer Erweckung kommt das nicht gerade gleich, aber ich wollte ja auch noch weiterschlafen. Doch da ist dieser Kater von löwenmäßiger Gestalt, der auf mir herumtrampelt. Das kommt davon, wenn Hannes einem seine Geheimingredienz ins Bier rührt. Davon bekommt man unweigerlich im Nachgang eine Matschbirne.

Früher, im Teenageralter, als ich dem Alkohol mehr zugeneigt war als heute und als für mich gut war, da hatte ich als ersten Song des Tages in der Regel einen betimmten, obskuren Country-Song, der mir sonst nie einfiel, in den Ohren: "What´s Wrong In Your Head, Fred" von einem Typen, der schon mit Stetson durch Alabama ritt, als noch die Bisons in großer Zahl auf der örtlichen Wiese grasten. Mit dem Fred konnte er schon mich gemeint haben, obwohl ich eigentlich gar nicht Manfred, sondern Jürgen heißen hätte sollen. Aber meine Mutter verlangte nach der Geburt in schwer gezeichnetem Zustand atemlos nach ihrem "Mann, Fred", was die Krankenschwester als Aufforderung verstand, mich während einer Nottaufe "Manfred" nennen zu lassen. Ich kann mich zwar nicht mehr daran erinnern, ob irgendwelches Weihwasser an mir herabgeflossen ist, aber den Namen trag´ ich mit mir herum. Den kann ich also nicht vergessen. Er erinnert mich an den Alkoholiker, den ich zum Vater hatte, obwohl er nicht mein Erzeuger war. Wer jetzt denkt, der Apfel fällt auch dann nicht allzuweit vom Pferd, der irrt. Ich trinke praktisch nie oder nur sehr wenig. Hannes mußte mir bislang auch noch nicht oft einen Rausch mit ins dunkle Naß mischen. Aber gestern war es wohl mal nötig. Warum? Ach, dazu lest halt die Kolumne von letzter Woche, dann brauch´ ich mich nicht zu wiederholen.

 

 

 

Und nun? Ich versuche das Katzentier abzuschütteln, aber die Gattung Felidae hat Krallen und hält sich hartnäckig fest. Plötzlich ist der erste Song des Tages da: Leise singt Tom "The Perc" Redecker zu mir "What´s In Your Head, Fred?" - und das Lied ist deutlich besser als das Gegniedel des alten Hart. Während sich die wunderbare Melodie einen Weg durch die von Kopfschmerzen durchwühlten Ganglien sucht, erinnere ich mich an das Video zu "What´s in Your Head, Fred". In mausgrauem Schwarzweiß zeigt sich darin eine zerstörte Welt. Es scheint so, als hätte "Fred" Redecker gerade mit Mühe, Not und mit nicht viel mehr als einer lustigen Norwegermütze bekleidet, einen schlimmen Krieg überlebt. Bevor er sich fragen kann, wie es weitergehen könnte, muß er sich erst mal aufraffen und sich die Zerstörung ansehen.

Oder spielt sich das alles nur in seinem Kopf ab? Mir geht es auf jeden Fall gerade so: Mein Kopf schmerzt, und ich blicke auf das vergangene Leben wie durch eine Milchglasscheibe. Nehme ich alle Sinneseindrücke zusammen, dann schwebe ich wohl eher auf einem mit winzig-scharfen Glasscherben gespickten Riesenwattebausch durch die Zimmer. Räume, in denen gestern noch gelacht, gehühnert, gestritten, getanzt, gegessen und gesonstwast wurde, wirken plötzlich unwirklich. Es ist kühl geworden, alles erscheint mir leer, kalt und in seiner Endgültigkeit sinnlos zu sein. Aber ich friere nicht, mich pieksen nur die Spitter.

"What´s In Your Head, Fred?" Gute Frage, nächste Frage. Wo ist eigentlich der Affe von letzter Nacht? Der hätte doch wenigstens für Ordnung sorgen können in all dem Chaos des gestrigen Tages. Aber das Tier ist weg, wahrscheinlich zurück in den Wald, wahrscheinlich, weil man seiner Primatenfamilie die Kokosnüsse geklaut hat. Ich verstehe das gut. Der Kater hat derweil Hunger, ich werde mir einen Rollmops mit ihm teilen. Das soll ja helfen. Danach braue ich mir einen dreistöckigen Espresso mit Zitrone, einer Prise Salz und etwas Zucker. Normalerweise beruhigt das das Pochen im Schädel. Das Rezept habe ich von Hannes. Der alte Magier vom "A Thousand Miles to Dublin" kennt schließlich für jeden Zaubertrank auch das passende Gegenmittel.

 
Wie war das gestern noch gleich? Ich gab ihm die CD der Electric Family, "Echoes Don´t Lie" heißt die, und er legte sie ein. Während er Biere zapfte und gefährliche Substanzen reinrührte, versuchte er mich auf anderem Gedanken zu bringen: "Sie ist weg?" fragte er und schob ein "Na und?" hinterher. "Du wirst sehen, es ist für irgendwas gut." Ich erinnere mich, daß ich kurz "genau - für deine 'Bizerba-Kasse' " dachte. Er wartete nicht auf meine Antwort, die kannte er ja schon. Säße ich sonst hier? Würde ich sonst in mein Bier weinen? Natürlich nicht. Also nahm er sich die CD-Hülle der elektrischen Familie in die Hand.

" 'Echoes Don´t Lie'? Na, das ist doch Quatsch!" Ich verstand nicht gleich und wollte es auch nicht verstehen. Trotzdem fragte ich nach: "Was meinst du? Ich kann dir nicht folgen. Ich bin da oben schon ein bißchen eingerostet, Miss Elsa." Hannes mochte zwar den Film "Casablanca", aber er fand es stets unschicklich, wenn ihn jemand "Miss Elsa" nannte. Dieses Mal überhörte er es - überhörte mich - aber: "Nimm mal an, du würdest nicht 'Wie heißt der Bürgermeister von Wesel' rufen, sondern irgendeine Lüge. Kann dann das Echo plötzlich zur Wahrheit werden? Doch wohl nicht." Hannes hatte Recht: "Stimmt, schon bei der unverfänglichen Frage nach dem Bürgermeister der Kleinstadt in En-Er-Weh lügt das Echo. Und ich sag dir auch warum. Der Obermufti des Ortes heißt nämlich nicht Esel, sondern Westkamp und mit Vornamen Ulrike. Es ist außerdem eine Bürgermeisterin. So sieht´s aus."

 

 

Die CD gefiel uns trotzdem - und auch die Gäste, die sonst Beautiful South, Dubliners oder Pogues zu hören bekamen, fragten neugierig, was denn da Schönes aus den Boxen herauskam und ihren Ohren schmeichelte. Es steht somit also fest, daß The Electric Family auch die Herzen der hartgesottensten Knights des Heiligen Kilkenny erreichten.

Und nun hat mich "What´s In Your Head, Fred?" fest im Griff. Eine Antwort auf die wiederholt vorgetragene Frage von "The Perc" habe ich allerdings immer noch nicht. Ich murmle "nicht viel" und widme mich dem Espresso. Schmeckt komisch, das Zeug. Vielleicht habe ich zuviel Zitronensaft im Koffein? Ach, runter damit. Das Leben ist süß, Zitruskaffee grausam. Oder ist es genau andersherum? Der Frage widme ich mich erst, wenn der Wattebausch weg ist und ich wieder klarsehe. Vielleicht frage ich später doch lieber Hannes ... der weiß auf alles die richtige Antwort: "Sie ist weg? Na und?"

Manfred Prescher

Manfred Prescher - Es war nicht alles schlecht: Best of Miststück

Kolumnen 2005 bis 2020


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