Kolumnen_Miststück der Woche - V/011: Sinn und Sinnlichkeit

Die Supererbin: "Fuckin´ Dunkel"

Diese Künstlerin fordert "mehr Frauen im deutschen Pop" - und die Forderung trifft speziell bei Manfred Prescher auf offene Ohren. Er hört nämlich gerade sehr gern Steiner & Madlaina, die allerdings aus der Schweiz sind, oder Doctorella und Kitty Solaris. Deshalb hofft er, daß die Supererbin ihr vermutlich komplett von verstorbenen Religionsgründern der Mammonenkirche und/oder Großfürsten der Subkultur übertragenes Vermögen zum Wohle begabter Künstlerinnen einsetzt.    01.04.2020

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Ich denke mir ja viel krudes Zeug aus, die Leser wissen das - und einige davon schätzen es vermutlich auch. Sonst würde es das "Miststück" wohl auch nicht mehr geben. Aber diese "Kurzbiographie" - oder was immer es darstellen soll - der Supererbin entstammt nicht meinen verschlungenen Denkwindungen, was schon fast wieder schade ist.

Auf den kreativen Akt, der der Berlinerin Leonie Scholl damit gelungen ist, muß man erstmal kommen. Ich zitiere, wobei ich währenddessen gleich einmal den Hut ziehe: "Die Supererbin wurde 2018 von zwei überdimensionalen Plastikflamingos im Berghainer Darkroom aufgefunden und adoptiert. Nachdem sie den Großteil ihres Lebens im Internet verbracht hat, gibt sie nun gerne Bühnenshows in Badeanzug und mit Bällebad, bei denen sie ihren Lo-Fi-Techno-Pop zum Besten gibt."

Wie war das nochmal? Sie wurde im berühmt-berüchtigten Berghain aufgefunden? Mitten in einem der vielen Darkrooms, die es dort geben soll, wenn man den Machern des Schwulen-Podcasts "schwanz & ehrlich" Glauben schenkt - was ich an dieser Stelle ausdrücklich tue. Sei dem aber, wie es nun mal sei: Man kann auf jeden Fall davon ausgehen, daß es eine pädagogisch sinnvolle Tat war, Leonie aus diesem Sündenbabel zu holen und damit vermutlich zu retten. Ob man die junge Dame nach der Befreiung aus dem angesagten Serail dann direkt ins Testament aufnehmen und als Supererbin einsetzen muß? Man sollte warten und schauen, was die Künstlerin mit ihren Talenten anstellen wird. Zunächst einmal drehte sie einen Film, der "Berlin 4 Lovers" heißt und zehn Wahl-Berliner vorstellt, die in der großen Stadt real einsam sind und daher bei Tinder vor sich hin"matchen". Ich habe den Streifen nicht gesehen, und mein Interesse daran hält sich in Grenzen, die deutlich enger gezogen sind als die Mauer und der Stacheldraht, die annodunnemals den westlichen Teil der deutschen Hauptstadt umgaben. Aber ich vermute trotzdem einfach mal so ins Dunkle hinein, daß manch einer der Protagonisten im Verlauf des Filmes zwangsläufig durchaus mal im Berghain landen könnte.

 

Die Supererbin schreibt (behauptet sie) Texte, die zwischen Nina Hagen und Rio Reiser angesiedelt seien, was sicher ein gutes Referenzfeld ergibt. Musikalisch liegt sie freilich näher an EBM, frühem Techno und Elektropop der 1980er Jahre. Das klingt tatsächlich etwas nach NDW, nach Depeche Mode trifft Bettina Köster und Gudrun Gut, also Malaria!, nach Anne Clark kreuzt ihren Sound mit dem von Devo und den Einstürzenden Neubauten, oder Ideal verbinden sich mit DAF. Solcher Vergleiche wären da noch viele - aber auch, wenn einiges daran richtig ist, hinken sie doch so stark, daß an künstlerische Vorwärtsbewegung gar nicht zu denken wäre, weil das alles so gestrig und rückwärtsorientiert klingt.

Würde man das Hinke-Bild auf menschliches Laufen übertragen, dann wären die wenigen Meter von der Feuerwache in der Wedekindstraße bis zum Berghain unüberwindlich. Und damit würde man der Supererbin nun nicht wirklich gerecht. Weil: Eigentlich ist alles ganz anders, und nichts ist, wie es scheint. Leonie Scholl spielt mit Barbie-Motiven, liegt im rosafarbenen Bikini auf dem Sonnendeck oder stürzt sich ins Bällebecken, auf daß die Kugeln quer durch das schwedische Möbelhaus kullern und Kunden wie Angestellte übereinanderpurzeln. Das führt dann zwangsläufig zu turbulenten Szenen zwischenmenschlicher Nähe und zu grotesken Situationen, die leider wenig Ähnlichkeit mit der real existierenden Suche nach Möbeln für die privaten zehn Quadratmeter oder nach Duftkerzen zu tun haben. Im Einkaufstempel geht es ja bekanntlich gesittet zu, wenn man das gelegentliche Murren an der Kassenschlange oder bei der Kötbullar-Ausgabe geflissentlich verdrängt und gar nicht erst an seine Ohren heranläßt.

 

 

 

Falls irgendwann ein "Die kleine Leonie wartet im Kinderparadies auf ihre Adoptiveltern" ausgerufen wird, kann man das auch gleich mitüberhören. Leonie wartet nämlich auf niemanden, die fühlt sich pudelwohl in ihrer Welt und will gar nicht mehr raus. Draußen ist es erstens nicht bunt, zweitens nicht lustig und außerdem ist es - drittens und viertens - auch noch "fuckin´ dunkel" und "fuckin´ kalt". Mit "Fuckin´ Dunkel" toppt die Supererbin auch ihre famose Single "Tage in Berlin" und die ebenfalls gelungene EP "My Cold German Heart" - und das liegt am EBM-Techno-Pop, der so frisch und sehr präzise klingt, daß jedes Retrogehabe abfällt. Ergo: Wer im Hier und Jetzt lebt, kann - und sollte - Historie bewußt einsetzen, um mit ihr den Blick in die Zukunft zu richten.

Der Supererbin hilft bei "Fuckin´ Dunkel" - und hoffentlich auch beim demnächst erscheinenden Album - einer der innovativsten Produzenten, die es in Deutschland so gibt: Andreas "Moses" Schneider hat unter anderem Tocotronics Meisterwerk "Pure Vernunft darf niemals siegen", Fehlfarbens famoses "Glücksmaschinen"  und Platten von AnnenMayKantereit, den Beatsteaks, Olli Schulz oder Kreator veredelt, also auf den klingenden Punkt gebracht. Nicht vergessen will ich hier auch seine Arbeit an der genialen CD "DMD KIU LIDT" der Austroberliner Ja! Panik. Und nun nimmt er sich der Supererbin an. Tiefer Groove aus dem Elektrofachhandel des Meisters trifft auf eine Stimme, die irgendwo zwischen gelangweilt und fröstelnd eben von der Kälte singt. Da ist es dann doch verständlich, daß sich die Supererbin zurück ins wohltemperierte Bällebad sehnt.

Auf jeden Fall gelingt Scholl und Schneider ein veritabler Indie-Hit, der hoffentlich dazu führen wird, daß sich das Erbe finanziell noch mal aufpolstern läßt. Mehr als die ohnehin zu hohen Kontoführungsgebühren und der Eintritt im Berghain sollten allemal drin sein. Vielleicht unterstützt Leonie Scholl mit den Reinerlösen die Künstlerinnen in ihrem Berliner Netzwerk, etwa die befreundeten Schwestern Kerstin und Sandra Grether, beziehungsweise deren Projekt Doctorella. Von denen speise ich das bisher letzte Album "Ich will alles von dir wissen" ja immer noch, sehnsüchtig auf Neues wartend, via Spotify auf meine Gassigeh-Kopfhörer.

Aber Songs wie "Ich brauche ein Genie", "Es war nur eine lange Berührung" oder "Du bist immer noch mein Idol" sind halt auch schon vier Jahre alt - und das ist eine Menge Zeit, die da inzwischen verstrichen ist. Vor allem, wenn man bedenkt, was wir alle innerhalb einer Woche schon wieder alles vergessen oder in einem der Darkrooms von Herz und Hirn eingesperrt haben. Damit will ich es für diese Woche sein lassen, das Klappern auf der Tastatur beenden - und euch eine schöne, liebevolle Zeit ohne "fuckin´ Kälte" wünschen. Nächste Woche geht es dann wieder um Ladies - und zwar um die Dixie Chicks. "Older Budweiser" sind die mittlerweile, aber leset selbst ... demnächst auf dieser Webseite.

Manfred Prescher

Die Supererbin - Fuckin´ Dunkel

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Photos: © Tereza Mundilova/Die Supererbin

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