Depeschen aus der Provinz
Peter Hiess lebte mehrere Jahrzehnte in Wien. Dann entschloß er sich, in die Provinz zu übersiedeln. Wie sich das anfühlte, erfahren Sie hier.
"Es war ja nix da", hört man alte Leute manchmal sagen. "Wir ham ja nix ghabt." Herrliche Zeiten. Heute haben sie nämlich alles. Und was noch fehlt, bestellt man aus dem Katalog. Die Füllhorner des Kapitalismus liefern frei Haus, und das ist nicht immer leicht zu (er)tragen. 26.09.2019
Mühselig und schwer beladen schlurft der Postbote durch die freudlosen Gassen.
Gar nicht wahr ... Stattdessen hat er dräuend schwankende Stapel bedruckten Papiers an seinem Moped festgebunden und führt sie so zu seinen Kunden, den Alleinerzieherinnen, Traktormechanikern und Psychopharmaka-Junkies, die es draußen in der Provinz ebenso gibt wie in jeder Großstadt. Er selbst braucht solche Tabletten nicht, weil man ihm sowieso bei jedem vierten Haus ein Schnäpschen anbietet und er öfters ja sagt als nein. Er ist ein glücklicher Mann, der Postler, vor allem, wenn er an seine eingesparten Kollegen denkt, denen er einmal im Monat ihr Arbeitslosengeld aushändigt - wenn sie nicht das Pech hatten, in irgendein Polizeikommissariat versetzt zu werden, wo sie heute in einem finsteren Hinterzimmer die Einsatzberichte der Kollegen in den Computer delirieren dürfen, schön langsam und im Zweifingersystem, wie sich das gehört.
Gott sei Dank, das bleibt ihm alles erspart. Und er braucht auch nicht mehr schwer beladen die staubigen, sonnengleißenden Dorfstraßen entlangzuschlurfen, so wie einst der Urgroßvater, der noch für die k. u. k Postverwaltung unterwegs war. Aber von dem und seinen anderen Vorfahren aus dem Zustelldienst weiß er, daß früher alles besser war. Logisch. Schon weil keiner soviel verdient hat, daß er dauernd Zeug aus der großen weiten Welt der Versandhäuser bestellen konnte. Seit ein paar Jahrzehnten floriert jedoch das Katalog-Unwesen, als hätte jeder Nebenerwerbslandwirt hinten im Stadel eine Eurodruckmaschine. Nächtelang gustiert man aus der Angebotsflut mittlerweile telefonbuchschwerer Universal-, Quelle- und Otto-Kataloge. Hobbygärtner lassen sich zentnerweise Blumenerde - entdeckt in Band 14 der regalefüllenden Starkl-Enzyklopädie - kommen, während Elektronikbastler das neue Conrad-Konvolut studieren wie seinerzeit der gelehrte Mönch die Bibel. Nicht zu vergessen die Werkzeugkataloge, wahre Folianten, die den Rücken des armen Postboten krümmen und es ihm erheblich erschweren, abends auf die Gattin zu springen.
Die gratis am Telefon georderte Ware lassen sie sich ins Haus liefern, portofrei ab 20 Euro, und wenn was nicht paßt, schicken sie´s kostenlos zurück, und prompt rollt Ersatz an. Und wer wird das alles tragen müssen, vom Moped oder vom Lieferwagen in ihre angeräumten Haushalte? Dreimal raten wäre dreimal zuviel ...
Jetzt sieht er gerade diesen unverbesserlichen Stadtmenschen im Garten eines Einheimischen herumlungern. Der macht von dort, wo er jetzt wohnt, immer wieder Exkursionen in die Dörfer, um die Leute dort besser zu verstehen, wie ein Völkerkundler. Und genauso hilflos angesichts einer ihm völlig fremden Sprache - sie bewerfen ihn mit Heimwerkerjargon wie "Stihl" und "Flex" und "Hilti", mit dem er ob seines technischen Unverständnisses gar nichts anzufangen weiß. Und dann wird er rot und stammelt verlegen, bis sie ihm androhen, ihn zu "kärchern", wenn er sie noch lang von der Arbeit abhält, also flüchtet er wieder lieber in die Kleinstadt, wo der Handwerker eine kontrollierbare Bedrohung bleibt.
Das freut den Postler, daß andere es auch nicht leichter haben. Heute braucht er sowieso besonders viele Stamperln, weil heute führt er die "Modernde Hausfrau" aus - einen traditionsreichen Katalog voller neuer und nützlicher Dinge, der sich alle Vierteljahre über die Region senkt wie ein Teppich der sinnlosen Verschwendung. Wieder einmal werden die Damen in kollektiven Bestellirrsinn verfallen und noch die letzte leere Kammer ihres Hauses mit all der ungeheuer praktischen Ware vollstopfen: das Tadsch Mahal als originalgroßes Puzzle zum Nachbauen, der batteriebetriebene Vibrationsreiniger für die dritten Zähne oder die lebensechte Steinechse für den Garten (meisterliches Textzitat: "Wie ächzen echte Echsen?"), die künftige Generationen schreiend aus den Museen treiben wird. Oder auch die Spezial-Klobürste, die "dort saubermacht, wo sonst nur der Urinstrahl hinkommt".
Irgendwie ärgerlich, daß er nicht selber auf die Idee gekommen ist, all das Klumpert aus den städtischen 1-Euro-Shops en gros zusammenzukaufen und draußen in der Provinz überteuert feilzubieten. Aber er ist ja nur ein Briefträger, der sein Packerl zum Tragen hat - und wochentags auch die der anderen. Bis zur Pensionierung, der Leberzirrhose oder dem endgültigen Vermodern der Hausfrau.
Prost! Darauf trinkt er noch einen.
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