Kolumnen_Al Cook im EVOLVER #13

Der Blues - Stiefkind der Musikgeschichte

Der EVOLVER veröffentlicht die Kolumne, die der heimische Blues-Traditionalist Al Cook jahrelang für eine heimische Website schrieb, auf seinen Seiten neu - nicht nur, damit die Texte nicht verloren gehen, sondern weil sie so gut sind. In dieser Folge räumt Cook mit alten Mythen über die Entstehung der Bluesmusik auf und erklärt, warum echte Blueser damals Außenseiter waren und es heute noch sind.    09.07.2019

Diesmal widme ich mich einem Thema, das mich seit meinen ersten Tagen als aktiver Musiker bewegt: dem Blues als essentieller Grundlage der gesamten westlichen Musikkultur und dessen unerklärlicher Unpopularität in der breiten Öffentlichkeit.

Zuerst möchte ich einmal mit dem großen Irrtum aufräumen, der Blues sei eine Sklavenmusik oder aus der Gospel-Tradition hervorgegangen. Seine Ursprünge liegen zwar im Dunkeln - aber so wie der Mensch nicht von einem Erdenfleck stammt, ist der Blues nicht auf einer bestimmten Plantage entstanden. Bis zum Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges, der mithin auch die Befreiung der schwarzen Sklaven einleitete, gab es überhaupt keinen Blues, wie ihn wir kennen oder zu kennen glauben. Der Besitz von Musikinstrumenten, besonders von perkussiven wie Trommeln und ähnlichen, war streng verboten. Man wußte zu gut, daß damit codierte Nachrichten verbreitet werden konnten, was wiederum die Gefahr schwarzer Organisation weckte. Als die ersten Trichtergrammophone in den frühen Zwanzigern auch den Feldarbeitern zugänglich waren, verbreiteten die weißen Bosse, daß sie jedes Wort, das über sie gesprochen wurde, durch diese Trichter hören konnten. Das führte dann zur Entwicklung des heute ausgestorbenen double talk, bei dem sich die Schwarzen über scheinbar harmlose Alltäglichkeiten unterhielten, aber jeder wußte, worum es in Wahrheit ging.

Aus den Zurufen und Feldarbeitergesängen, den field hollers, formierte sich mit dem Selbstbau von primitiven Saiteninstrumenten sowie dem Auftreten der ersten wandernden Sänger der Blues. Anfangs konnten die Afroamerikaner mit den von Weißen benutzten Instrumenten nicht viel anfangen, da ihr Tonsystem keine Leittöne kannte, wie wir sie z. B. für die Darstellung von Dur- und Moll-Akkorden, großen Septimen und Harmoniestufen verwenden. Die frühen Blueskünstler verwendeten für unsere Ohren etwas dissonante Leertöne, die oft nicht zur Grundharmonie paßten.

Das totale Unvermögen unserer Musikprofessoren, die sich bis in die 60er Jahre nicht in außereuropäische Tonkunst hineinversetzen konnten, sprach den Schwarzen einfach die Fähigkeit ab, formal zu musizieren. Die Kirche sah im gesamten Jazzkomplex sowieso eine moralische Gefahr für die Jugend. Als ich einmal in einem Buch über katholische Jugenderziehung blätterte, traute ich meinen Augen nicht. Hier stand schwarz auf weiß, daß man junge Menschen nicht zu sehr der Jazzmusik aussetzen solle, da sie sonst Schaden an ihrer moralischen Konsistenz nehmen könnten. Mit einem Wort: Wenn man sich vom kompositorischen Korsett sogenannter klassischer Musik befreite, um der freien Emotionalität der "Dschungelmusik" zu frönen, war das bis in die frühen Sechziger der erste Schritt ins Verderben. Die Filmchen der 50er Jahre, in denen sich das Jazz- und Klassiklager in den Haaren lagen, sind Legion - wobei man den germanisierten Schlagerschmarrn deutscher Rock´n´Roll-Bubis ebenfalls zur Jazzmusik zählte.

Aber nun wieder zum eigentlichen Thema: Die einzigen Farbigen, denen man vor 1865 das Musizieren erlaubte, waren Musiker von Salonorchestern, die darauf getrimmt waren, weiße Abendgesellschaften mit Walzermelodien zu unterhalten. Bis vor 15 Jahren wußte ich noch nicht, daß der Blues selbst unter den Schwarzen ein disreputierliches Image hat. Auf einem Diplomatenempfang goutierte man zwar mein Bluespiano, aber ich spürte, daß der farbige Teil der Gesellschaft lieber Mozart gehört hätte.

 

 

Der Blues blieb also seit jeher auf den Bodensatz der afroamerikanischen Gesellschaft beschränkt, da auch die "Churchgoin´ People" von dieser Teufelsmusik nichts wissen wollten. So fristete er sogar während seiner Hochblüte ein reichlich karges Leben am Rande der Gesellschaft. Die Weißen, die sich in den Zwanzigern dieser Volkskunst annahmen, waren mit wenigen Ausnahmen bloß Geschäftemacher, die ihren oft analphabetischen oder blinden Künstlern ihre Urheberrechte um eine Flasche Jake (billigen schlechten Fusel) abkauften oder ihnen eine Bordsteinschwalbe ins Bett legten. Blind Lemon Jefferson brachte es sogar zu einem Auto mit Chauffeur, doch es geht die Sage, daß dieser den guten Lemon in der Silvesternacht 1929 nach einem Herzanfall aus dem Wagen geworfen habe und davongefahren sei. Am Neujahrsmorgen 1930 fand man die Blueslegende in Chicago unter einer Schneedecke und daneben seine Gitarre. Soviel zur Behandlung von historischen Größen ...

Bis in die 50er Jahre hatten Schwarze auf dem weißen oder internationalen Markt kaum eine Chance. Die wenigen, die ein bißchen Geld machten, waren Waschmitteljazzer wie Nat King Cole, der mit samtiger Schmusestimme und weichgespülten Arragements seinen Weg durch die Nachtklubs machte. Fats Domino, der von Roosevelt Sykes während dessen Zeit in New Orleans viel gelernt hatte, pfiff auf Boogie-Woogie und verbreitete mit seinen Liedchen schwarzen Happy-Sound. Und Chuck Berry, der die St.-Louis-Szene gut kannte, erstarrte thematisch in High-School-Problematik, für die er eigentlich zu alt war. Während sich die ganze Welt über Elvis´ Bühnenshow mokierte, kritisierte jedoch kein Mensch Berrys berühmten Duck-Walk. Fats schubste mit seinem Bauchladen den Flügel von einem Eck zum andern, und keiner nahm ihm das krumm. Von Schwarzen erwartete man eben eine exotische Show. Aber die wahren Typen von der Baumwollzunft hatten nie eine faire Chance.     

Elvis war - wie ich - ein großer Fan der Bluesmusik, aber das durfte das breite Publikum in den Fifties nicht wissen, weil ihn die "braven" Amerikaner sonst aus Memphis gejagt hätten. Sam Phillips, der Inhaber von Sun Records, war zwar weiß, aber er liebte den Blues wie schon vor ihm der für Paramount tätige Henry C. Speir. Sam träumte von einem Weißen, der schwarze Musik glaubhaft vom Stapel lassen konnte. Das wäre ein Millionengeschäft, da es ja außer Perry Como und Frank Sinatra sowieso nichts Aufregendes auf dem Populärmarkt gab. Als Elvis entdeckt wurde, war ich neun und außerdem tausende Meilen von Memphis entfernt. Ich weiß nicht, was Sam Phillips zu mir gesagt hätte. Wahrscheinlich wäre ich ihm zu rauh gewesen - als ich von 1983 an ein paar Jahre Rockabilly-Musik machte, war ich den Fans schließlich auch zu hart und schwarz. Sei´s drum.

Elvis sang drei Songs, die er sich von einem ziemlich archaisch klingenden Sänger namens Arthur "Big Boy" Crudup abgehört hatte, und schlug bereits mit seinem Debüt "That´s All Right (Mama)" voll ein. Hört man sich die beiden Versionen hintereinander an, so klingt Elvis ziemlich nach einem Countrysänger, der aber irgendetwas Frech-Erotisches in der Stimme hatte. Seine Erscheinung dazu - und ein Star war geboren. Wäre Elvis bloß 1,60 Meter groß und farbig gewesen, hätte er sich die Kehle in Fransen singen können, und keine Sau hätte ihm eine Platte abgekauft.

Arthur Crudup indessen starb verarmt, kinderreich und ohne in die Hall of Fame eingegangen zu sein. Man sagt, Elvis hätte ihm zumindest eine Plattensession finanziert. Ich war einer der größten Elvis-Fans in unserem Lande, aber ich muß dazu sagen, daß er - anstatt dümmlichen Barbiepüppchen Cadillacs zu schenken - dem alten Crudup einen sorgenfreien Lebensabend hätte bereiten können! Was meint die Leserschaft dazu?

So kam es, daß die Schwarzen weiter auf der Veranda Musik machten und die Las-Vegas-Bubis mit ihren Groupies im Champagner badeten. Mit der Bürgerrechtsbewegung war dann Schluß mit Uncle Tom. Der Blues wurde von seinen eigenen Schöpfern auf die Deponie der Musikgeschichte geworfen, und mit der Motown-Bewegung ging es dann richtig los, von den Supremes bis Michael Jackson und Puff Daddy.

Elvis hätte viel bewegen können, doch er schoß lieber auf Fernsehapparate und fraß sich zu Tode, weil er mit all seinem Reichtum nichts anzufangen wußte. Ich als Fan darf das wohl offenherzig zu Papier bringen, ohne von aufgebrachten Elvis-Fanatikern gesteinigt zu werden. Der Blues wurde zur Einlage bei Jazzkonzerten herunterstilisiert und von Konservatoriumsabgängern milde belächelt. Lange trugen die Bluesfans den Beinamen "Alabamaferdl´n", was die Außenseiterrolle, die wir damals hatten, treffend beschrieb.

Als 1972 mein Freund, der Boogie-Woogie-Pionier Martin Pyrker, im ORF auftrat, meinte der Big-Band-Capo Erich Kleinschuster, daß nun ein Ausflug ins Jazzmuseum bevorstehe und man von einem jungen Talent Boogie-Woogie demonstriert bekomme. Für Musiker, denen ein Nonenakkord wie ein Lagerfeuergriff erscheint, mag das wohl nicht die richtige Musik sein - aber man muß bedenken, daß es Künstler gibt, die für diese Musik leben. Und ich glaube, einige junge Blueser tun das auch.

 

 

 

Ich hätte nicht geglaubt, daß mir während des Schreibens noch so viel zu diesem Thema einfallen würde, doch es braucht mit Sicherheit noch eine Folge, um auch die Situation in unserem Land ausgiebig zu behandeln. Meine treuen Leser werden bald wissen, wie es weitergeht ...

 

Euer

Al Cook

Al Cook im EVOLVER


Unverfälscht, traditionsbewußt und weitab vom Kommerz-, Radio- und Social-Media-Mainstream: So wie Al Cook Musik macht, schreibt er auch - und zwar exklusiv im EVOLVER. Lesen Sie hier seine sehr persönliche Einführung in die Welt des authentischen Blues-Genres und seiner Position im populärkulturellen Musikgeschehen.

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