Kolumnen_Ausweiskontrolle: Vorrat für die Zukunft

Ein Vorrat für die Zukunft

Die "Data-Retention"-Direktive der EU soll Wirklichkeit werden: in Zukunft müssen die Provider sämtliche Mobilfunk- und Internet-Verbindungsdaten zwei Jahre lang speichern.    19.01.2006

Zehn Jahre World Wide Web haben die Welt in einem nicht absehbaren Ausmaß verändert - nicht nur durch die Fülle von Informationen und Diensten, sondern auch durch die Popularisierung der Vernetzungsidee. Aus einfachen Personal Computern sind Netzwerkknoten geworden, und es gibt kaum einen Bereich der Informationstechnologie, der noch als Insel im Datenstrom agiert. Jeder Computer ist mittlerweile Teil eines vegetativen Netzwerks, das einerseits unsere Bequemlichkeit befriedigt, andererseits auch sehr viele Informationen über uns selbst ins Datenland schickt. Wer durch die Digitalwelt stapft, hinterläßt zwangsläufig Spuren, und auch im verästeltsten Netz bleibt am Ende der Datenwurzel der Anwender sichtbar.

Das kann einer der beschwingten Wireless-Zeitgeister aus der Fernsehwerbung sein, ein beliebiger Nerd oder jemand im Büro, der sich gerade "King Kong" per BitTorrent auf die Festplatte saugt. Das Netzwerk sieht alles - und seit der "Wayback Machine", die längst vergangene Webseiten archiviert, wissen wir, das es auch nichts vergißt. Zwei Technologien haben die Welt annähernd zeitgleich und mit Lichtgeschwindigkeit erobert: das Internet und der Mobilfunk. Die technische Erfolgsgeschichte dieser Innovationen ist einzigartig - ebenso wie die im täglichen Leben angerichteten Kollateralschäden.

Mit dem Beschluß der so genannten "Data Retention"-Richtlinie (übersetzt für "Daten-Zurückhaltung" bzw. "Daten-Vorratsspeicherung") hat der Europarat einen "Großen Bruder" geschaffen, den die Welt seit dem Ende der Sowjetdiktatur für tot und begraben gehalten hat. Aber Totgeglaubte leben offenbar wirklich länger - und nun ist ein System auferstanden, in dem die Wege, Kontakte und Interessen jedes EU-Bürgers erfaßt, abgespeichert und bei Bedarf miteinander verknüpft werden können: Wer hat wann mit wem von wo aus telefoniert, wer hat wem ein E-Mail geschickt, wer hat sich für welche Website interessiert? All diese Informationen sollen den Behörden von den Internet- und Mobilfunkanbietern kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Damit ist ein Alptraum wahr geworden, an den nicht einmal George Orwell zu denken gewagt hätte: die Möglichkeit zur umfassenden, gezielten Überwachung einer Einzelperson. Daten gerinnen zu Persönlichkeitsprofilen, die Unschuldsvermutung wurde umgedreht - und das Wort Profilneurose hat eine ganz neue Bedeutung bekommen.

Bis vor kurzem war es in der diesbezüglichen Medienberichterstattung noch praktikabel, darauf hinzuweisen, daß nicht einmal in den USA ein vergleichbarer Überwachungs-Gesetzesbeschluß existiert. Nicht einmal in den USA, die foltern und Gott-weiß-was-noch für schreckliche Sachen tun und das Ganze für die Lieben zu Hause auch noch photographieren. Nun hat George Bush zugegeben, daß er im Nachhall der 9/11-Explosionen einen Beschluß unterzeichnet hat, der die Überwachung jedes Amerikaners legitimiert - unabhängig vom offiziellen "Total Information Awareness"-Programm, das Informationen zur Terroristenentsorgung sammeln sollte und letztlich vom Kongreß gekippt wurde. Bush berief sich auf verschiedene Gesetze und den "Patriot Act", die sein Vorgehen im Krisenfall erlauben. Unabhängig von dem, was Geheimdienste aller Länder sowieso tun, wenn keiner zusieht, folgen sowohl die USA als auch Europa dem gleichen Muster: der Legalisierung von Überwachungsmaßnahmen, die in ihrer Informationstiefe einer geheimdienstlichen Recherche entsprechen und durch ihr Ausmaß den zukünftigen Normalzustand darstellen. Eine echte Gegenkraft gibt es nicht - und den Datenschutzrat als solche in den Raum zu stellen, hieße wohl soviel wie: "Noch einen Keks?"

 

In Zukunft werden Kommunikationsdaten gespeichert. Das steht fest, und als gelernter Österreicher weiß man, daß Protest nur selten etwas nützt. Darum lehnt man sich erst einmal zurück, tut so, als wüßte man von gar nichts, und schaut sich an, ob die ganze Überwachung vielleicht doch etwas nützt. Sie vermittelt ja nicht nur das langvermißte Gefühl, endlich auch in Penzing einigermaßen sicher vor Terroranschlägen zu sein - sie integriert sich auch nahtlos in die Monatsabrechnung. Die nicht billige Datensammelwut der Behörden muß natürlich von den Anbietern bezahlt werden, die alle Mehrkosten wiederum an die Kunden weitergeben werden. Erste Schätzungen sprechen von einer zusätzlichen 13. Monatsgebühr pro Jahr. Auch darum werden wir nicht herumkommen: Wer schon nicht mehr anonym telefonieren oder unerkannt durchs Web surfen darf, der soll gefälligst auch selbst dafür zahlen. Ende der Diskussion.

Verabschieden können wir uns dank Data-Retention wahrscheinlich auch von der anonymen Mobilfunk-Wertkarte. Schon Mitte der 90er Jahre gab es einen Anlauf, Wertkarten registrierungspflichtig zu machen - offenbar ein Langzeitplan, der über den Umweg der EU jetzt geglückt ist. Veränderungen muß es zwangsläufig auch für die zahllosen Internet-Cafés geben. Sie werden in Zukunft vermutlich die Daten der User, zusammen mit der IP-Adresse und der Nutzungsdauer des entsprechenden Rechners, speichern müssen. Und schließlich entsprechen auch die Registrierungsvorgänge der diversen Webmaildienste (GMX, Yahoo, Hotmail, G-Mail etc.) nicht den Erfordernissen der "Data Retention"-Direktive. Die Betreiber werden in Zukunft wahrscheinlich die Personaldaten der Anwender überprüfen müssen - und zusätzlich auch die IP-Adresse jedes einzelnen Mail-Zugriffs speichern. Freemail könnte dadurch teuer werden.

 

Die "Data Retention"-Direktive sieht nur die Speicherung von Verbindungsdaten vor: wer, wo wann, mit wem? Die Aufzeichnung von Telefongesprächen oder E-Mail-Inhalten ist nicht geplant – hier haben die Web- und Freemail-Anbieter einen deutlichen Vorsprung. So werden beispielsweise alle E-Mails, die über den von Google angebotenen G-Mail-Dienst verschickt werden, von automatischen Wortscannern durchsucht, um dem Absender dazupassende Werbebotschaften zukommen lassen zu können. Überhaupt sagt man den Gratis-Anbietern eine große Nähe zum US-Geheimdienst nach; vor allem Google Amerika, wo nur noch Mitarbeiter eingestellt werden, die über eine sogenannte NSA Clearance verfügen (also vom Geheimdienst National Security Agency als unbedenklich eingestuft werden). Aus der Vergangenheit wissen wir, daß alles, was verknüpft werden kann, früher oder später auch verknüpft werden wird.

Falls Sie es noch nicht begriffen haben: Das hier ist nicht das Wunderland - und Sie sind nicht Alice. Ihr Name ist schon jetzt Nebensache; den haben Sie bloß, damit die Nachbarn Sie nicht mit jemand anderen verwechseln. Ihr Name ist Alltagsbrabbelei. Identifiziert werden Sie nur über Ihre Nummer. Sozialversicherung, Reisepaß, AIDS-Paß. In ein paar Jahren wird der Hash-Code Ihrer DNS Ihre persönliche ID sein, die von einem unter der Haut sitzenden RFID-Chip in die Welt gefunkt wird. Den Namen oder das Gesicht kann man wechseln, die DNS nicht – noch nicht. Ich bin mir sicher, daß uns auch dieser Trick gelingen wird, früher oder später; und dann werden wir ein neues Identifikationsmittel brauchen, ein neues unverwechselbares Merkmal, durch das man ein Individuum aus Millionen herausfischen kann. Früher oder später werden es die Gedanken sein, die - auf Vorrat aufgezeichnet und für den Ernstfall zurückgehalten - dann die Ära der "Mind Retention" einleiten.

Und jetzt bloß nicht an einen rosa Elefanten denken!

Chris Haderer

CROPfm Big Brother News: Frontberichte aus dem Land des Großen Bruders


Im Radio: alle 14 Tage bei CROPfm (im Raum Steiermark auf 92,6 MHz/Radio Helsinki und als Livestream)

 

Links:

Kommentare_

Kolumnen
Ausweiskontrolle

Wie wir die NSA verwirrten ...

Im Internet sind die Lauscher immer und überall. Digitale Selbstverteidigung ist angesagt. Die notwendigen Tips gibt Steffan Heuer in seinem Buch "Mich kriegt ihr nicht!"  

Kolumnen
Ausweiskontrolle

The All American Big Data Online Election Show

Big Data und Social Media halten zusammen wie Pech und Schwefel. Ihnen verdankt Barack Obama seine zweite US-Präsidentschaft.  

Kino
Star Trek - Into Darkness

Phaserschmeichler

Zum zweiten Mal hat Regisseur J. J. Abrams den Motor der "Enterprise" angeworfen und sie auf eine für den Titel "Into Darkness" eigentlich recht gut ausgeleuchtete Reise geschickt. Chris Haderer ist eine Runde mitgeflogen.  

Termine
Festival des gescheiterten Films

Die große Show der tragisch Gescheiterten

Vom 8. bis 15. Februar geht das "Festival des gescheiterten Films" in den Breitenseer Lichtspielen vor Anker. Gezeigt werden Filme, für die es leider keinen kommerziellen Markt zu geben scheint.  

Termine
"Big Brother Awards" 2012

Name them & shame them!

Am 25. Oktober werden im Wiener Rabenhof die 14. "Big Brother Awards" verliehen. Traditionell finden sich unter den Nominierten illustre Namen von Beatrix Karl bis Marie Vassilakou.  

Kino
Die Wand

Bergsee mit Wand

Regisseur Julian Roman Pölsler hat sich an der Verfilmung von Marlen Haushofers "Die Wand" versucht - und ein schön photographiertes Hörbuch abgeliefert.