Michael
Ö 2011
96 Min.
... fragte der Chefkritiker des Esquire, nachdem er Markus Schleinzers Pädophilenstudie in Cannes gesehen hatte. Anfang September kommt der Film ins Kino. Hans Langsteiner hat mit dem Regisseur gesprochen. 25.08.2011
Mit seinem Erstling "Michael" hat es der 40jährige Wiener auf Anhieb in den Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes geschafft und dort für berechtigtes Aufsehen gesorgt.
Schleinzer erzählt, in einer an die verknappte Distanziertheit Michael Hanekes erinnernden Bildsprache, von einem angepaßten Angestellten namens Michael, der im Keller seines Einfamilienhauses einen zehnjährigen Buben gefangenhält und ihn sexuell mißbraucht.
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EVOLVER: Markus Schleinzer, wie weit liegen Ihrem Film reale Fälle wie Kampusch und Fritzl zugrunde?
Markus Schleinzer: Im Jahr 2008, als ich mit dem Verfassen des Drehbuchs begonnen habe, konnte man keine Zeitung aufschlagen, ohne mit dem Thema konfrontiert zu werden. Es war das Jahr, in dem in Portugal ein Mädchen namens Madeleine gesucht wurde, es war das Jahr, in dem der Prozeß gegen Fritzl begonnen hat, und zum Fall Kampusch entwickelten sich erste Verschwörungstheorien in Richtung Pornoring und was nicht noch alles.
Mich hat der Umgang der Medien mit diesen Fällen schockiert, und auch mein persönlicher Umgang damit: Daß auch ich diesen Überschriften sehr voyeuristisch und begierig gefolgt bin. Da habe ich mir gedacht, es müsse doch noch einen anderen Blick auf dieses Thema geben.
Meine Recherchen haben ergeben, daß sich im Bereich der Hochkultur bis auf Elfriede Jelinek niemand getraut hat, sich dieser Sache zu nähern. Man kann also nicht sagen, daß ich mir die Geschichte gleichsam nur aus den Fingern gesogen habe.
Ist das ein spezifisch österreichisches Thema?
Überhaupt nicht! Derlei gibt es leider überall. Trotzdem ist es ein Film geworden, der von Österreich erzählt und vielleicht auch von dem österreichischen Umgang mit diesem Thema.
Ich bin ja Österreicher und komme aus dieser Gesellschaft, und so ist alles, was ich mache, geprägt von meiner Sicht auf diese Dinge. Ich bin ja kein Schreibtischtäter und könnte mir nicht vorstellen, daß ich wie Edgar Wallace oder Rosamunde Pilcher Länder beschreibe, in denen ich nie war. Das wäre ja albern!
Aber dieses freudianische Motiv des In-den-Keller-Wegsperrens, des Verdrängens, das hat schon etwas sehr Österreichisches ...
Ja, natürlich. Ich glaube, daß es einen Grund gehabt hat, daß Freud hier gelebt und gewirkt hat. Ulrich Seidl arbeitet übrigens gerade ebenfalls an einer Dokumentation, die "Im Keller" heißen soll und in der er Menschen zeigt, die sich in ihren Kellern synthetische Idyllen eingerichtet haben, von der Kleinbahn bis zum Andenken ans "Dritte Reich".
Diese Selbstverwirklichung in Kellerabteilen - die nicht zwingend Pädophilen vorbehalten sein muß! - ist etwas spezifisch Österreichisches: Eine Art implodierende Selbstverwirklichung, die nur in geschlossenen Abteilen stattfindet. In Österreich macht man sich nicht gern lächerlich, in Österreich ist man nicht gern freigiebig mit sich selber. Es ist keine sehr freie Gesellschaft. Man läßt gerne die Rolläden herunter.
Ihre Hauptfigur Michael "funktioniert" ja in gewissem Sinn sehr gut. Er erledigt seinen Job so effizient, daß er im Lauf des Films sogar befördert wird. Ist "Michael" auch ein Film über das reibungslose Funktionieren der Angestelltengesellschaft?
"Michael" erzählt ausschließlich von mir, und wenn er darüberhinaus auch von der Angestelltengesellschaft erzählt, dann beinhaltet mich die eben. Zu diesem Funktionalen und Anständigen wurde auch ich erzogen. Dieser Michael versucht ja auch nur, Normalität darzustellen, und dies tut er so, wie er es an anderen beobachtet.
Ist das ein wenig auch die Botschaft des Films: Daß es "Normalität" gar nicht gibt?
Die kann es gar nicht geben! Normalität ist ja im Gegensatz zum Anormalen ein extrem dehnbarer Begriff. Wo Pädophilie beginnt, läßt sich medizinisch und juristisch genau festlegen. Wenn man sagen will, das sei abnorm, kann man genau nachschlagen, was das ist. Normalität hingegen läßt sich nicht definieren. Das ist ein dehnbarer Begriff, der oft mißbraucht wird. Man unterschätzt, daß Normalität für jeden einzelnen etwas anderes bedeutet. Das führt zu gesellschaftlichen Überforderungen, zu Mißstimmungen in gewissen Wählerklientelen ... Soviel dazu.
Ihr Film heißt zwar "Michael", benennt also den Täter, aber ist die eigentliche Hauptfigur der Geschichte nicht das Opfer, der eingesperrte Bub? Alle "suspense"-Elemente der Handlung kreisen letztlich um ihn.
Das ist interessant. Sie sind der erste Mensch, der das so an- und ausspricht. Wahrscheinlich ist das so. Oder es ist so, daß das zwar das Porträt dieses Mannes ist, aber eigentlich die Geschichte dieses Kindes. Das Kind steht letztlich ja auch für die Unkontrollierbarkeit des Lebens. Das Leben läßt sich nicht kontrollieren, wie sich Natur überhaupt nicht kontrollieren läßt.
Sie kennen sicher den Einwand, über ein derart extremes Thema ließe sich kein quasi wertneutraler Film drehen. Ich teile den Einwand nicht, möchte Sie aber dennoch dazu befragen.
Das Argument finde ich lachhaft. Mein Ansatz war, einen Film zu drehen, bei dem die Menschen, die ihn sehen, Stellung beziehen dürfen, sollen, müssen. Sie sollen nicht der Stellung, die ich beziehe, blind folgen. Es gibt einen Ausspruch von Hannah Arendt, wo sie vom "Denken ohne Geländer" spricht. Ich finde, das paßt hier ganz gut.
Ich frage mich auch, was das hätte sein sollen. Ich hätte nicht die Überheblichkeit, zu behaupten, ich könnte da irgendetwas zu einer Lösung beitragen. Jede Art von Stellungnahme wäre gerade bei diesem Thema sehr gefährlich gewesen. Das wäre ein Märchenfilm oder ein Blut-und-Sühne-Film geworden, und derlei lehne ich ab. Das wäre vielleicht darauf hinausgelaufen, den Täter "seiner gerechten Strafe zuzuführen", nur: Was ist die gerechte Strafe? Das ist bei uns allen meistens der Tod. Da nehme ich mich nicht aus. Wenn ich etwa an die Attentate von Oslo denke, ist mein erster Gedanke, den Attentäter müßte man umbringen. Das hat mich selbst schockiert.
Mittlerweile bin ich selber Zielscheibe solcher Leute geworden: Ich habe anonyme E-Mails bekommen, wo geschrieben wurde, wer einen Film über solche Themen drehe, gehöre an den Eiern aufgehängt oder am Auto angebunden und durch Wien geschleift. Solche Emotionen, die ich nur als erste Befreiungsimpulse deuten kann, bringen uns aber nicht weiter.
Zum Begriff "Denken ohne Geländer" paßt die reduzierte Form Ihres Films. Sie wissen sehr genau, was Sie zeigen, und was nicht. Der sexuelle Mißbrauch etwa ist auf zwei Einstellungen reduziert: die verschlossene Kellertür von außen und Michael, wie er sich den Penis wäscht.
Die Darstellung von aktiver Sexualität habe ich von Anfang an als obsolet empfunden. Was da passiert, kann sich ja jeder Mensch vorstellen. Mir war es wichtig, das sehr unsinnlich, aber auch nicht grauslich zu zeigen. Das Schreckliche ist schrecklich genug. Da muß man nicht durch Effekte eine billige Miete machen.
Was auffällt, ist die enorme Ökonomie des Drehbuchs. Jedes Detail hat seinen dramaturgischen Sinn, nichts bleibt folgenlos und zufällig. Spiegelt sich hier der Inhalt in der Form? Die Welt des Films "Michael" ist so hermetisch und geschlossen wie die Welt der Figur Michael ...
Absolut. Das ist beabsichtigt. Ich wollte nichts verstecken. Alles, was man sieht, hat eine Geschichte.
Sie kommen ja selbst in Ihrem Film vor, wenn auch nur in einem winzigen Cameo-Auftritt und nur als Stimme eines besorgten Vaters, der nach seinem Kind ruft. War das eine Reminiszenz an Hitchcock?
(lacht): An Hitchcock hab ich dabei gar nicht gedacht. Das ist etwas Biographisches. Diese Ungeduld eines Erziehungsberechtigten mit dem eigenen Kind - da hab ich meinen eigenen Vater und seine Ungeduld mit verewigt.
Vielen Dank für das Gespräch.
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... fragte der Chefkritiker des Esquire, nachdem er Markus Schleinzers Pädophilenstudie in Cannes gesehen hatte. Anfang September kommt der Film ins Kino. Hans Langsteiner hat mit dem Regisseur gesprochen.
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