Kino_Widescreen
Die verlorenen Paradiese des Kinos
Unter den zahlreichen Attraktionen, die sich die Viennale zu ihrem 50. Geburtstag hat einfallen lassen, droht eine ganz besondere etwas unterzugehen: Im Wiener Gartenbau-Kino sollen wieder 70-mm-Filme gezeigt werden. Solche Dinosaurier der analogen Filmprojektion haben durchaus ihre Anhänger. Im englischen Bradford trafen einander kürzlich Liebhaber des längst vergessenen Cinerama-Verfahrens zu einem cineastisch-nostalgischen Hochamt.
Hans Langsteiner war für uns dabei.
21.05.2012
Der Mann wirkt ein wenig, als wolle er einem einen nicht ganz koscheren Gebrauchtwagen andrehen. Das Haar messerscharf gescheitelt, das Stecktuch akkurat in der Brusttasche drapiert, den stechenden Blick direkt in die Kamera gerichtet. So rekapituliert Lowell Thomas, ein Haudegen, der schon die Wüstenabenteuer von T. E. Lawrence vermarktet hatte, zunächst eine knappe Viertelstunde lang die technische Entwicklung des Kinos - vom ersten Western über den ersten Tonfilm bis herauf zu den 1950er Jahren. Bei allem Fortschritt habe man bisher jedoch Filme stets wie durch ein Schlüsselloch betrachtet. Das sei nun anders. Thomas nimmt den Zuschauer noch einmal fest in den Blick und spricht den filmhistorisch entscheidenden Satz: "Ladies and Gentlemen, this is Cinerama!"
War der Film bisher im klassischen, fast quadratischen 4:3-Format und in Schwarzweiß gehalten gewesen, so ändert sich jetzt das Bild. Links und rechts gehen die Vorhänge weit, weit auseinander und geben den Blick auf eine riesige, fast halbkreisförmig gekrümmte Leinwand frei. Zu unheilvoll dröhnenden Musikakzenten nimmt ein Hochschaubahnwagen seine Fahrt auf - und wir sitzen in der ersten Reihe und können nicht mehr aussteigen.
Noch heute ist ansatzweise nachvollziehbar, wie der Beginn des Films "This is Cinerama!" bei seiner Premiere am 30. September 1952 auf die Zuschauer im New Yorker Broadway (Film-)Theatre gewirkt haben muß: atemberaubend!
Dabei war das neue Projektionsverfahren, an dessen Entwicklung der Technik-Tüftler Fred Waller, der "King-Kong"-Miterfinder Merian C. Cooper und die Marketing-Genies Lowell Thomas und Michael Todd beteiligt waren, alles andere als perfekt. Um die gekrümmte Leinwand gleichmäßig und verzerrungsfrei belichten zu können, mußten drei Projektoren je einen 35-mm-Film mit jeweils einem Drittel des Filmbildes projizieren; die Trennlinien zwischen den Teilbildern blieben immer ein wenig sichtbar. Die Leinwand selbst war kein glatter Screen, sondern bestand aus mehr als tausend senkrechten Lamellen, die das projizierte Filmbild in subtil abschattierten Winkeln auffingen; der Ton - ein für damalige Begriffe revolutionärer Surround-Ton - kam von gleichzeitig mitlaufenden Magnetbändern.
So pannenanfällig die gewagte Konstruktion auch war, so durchschlagend schien zunächst ihr Erfolg. Allein "This is Cinerama!" lief acht Monate im Uraufführungskino und dann noch zwei Jahre in einem anderen, größeren New Yorker Kino. Auf dem Höhepunkt der Cinerama-Euphorie 1963 verzeichnete man 167 Cinerama-taugliche Kinos weltweit, darunter das Wiener Gartenbau-Kino mit einer mittlerweile nicht mehr existenten, extrem gekrümmten Riesenleinwand.
Heute gibt es weltweit nur noch drei Abspielstätten, die Cinerama-Filme projizieren können: zwei in den USA und eine im mittelenglischen Bradford, wo sich das prachtvoll ausgestattete Pictureville Cinema alljährlich bei so genannten "Widescreen Weekends" zum Mekka speziell interessierter Cineasten entwickelt hat. Ende April war es wieder so weit. Zum 60. Geburtstag des Cinerama-Verfahrens trafen einander an die 250 bildersüchtige Leinwandliebhaber, um die verlorenen Welten des Kinos wiederauferstehen zu lassen.
Natürlich war es nicht zuletzt Nostalgie, die die meist in Ehren ergrauten Filmfans da zusammengeführt hatte. Doch in die Erinnerungen an nie vergessene Kino-Überwältigungen mischte sich auch wehmütige Bewunderung für eine Form cineastischen Gemeinschaftserlebnisses, die die heutige vollautomatisierte Multiplex-Herrlichkeit nicht mehr kennt. Man bedenke: Für eine gelungene Cinerama-Vorführung müssen allein im Projektionsraum fünf Leute konzentriert zusammenarbeiten - je einer für die drei Projektoren, einer für den Magnetton und einer für die Saalregie, die bei Roadshow-Vorführungen samt Ouvertüre, Pausenmusik und Exit-Music unerläßlich ist. Parallel dazu muß gleichsam auch das Publikum "mitarbeiten", indem es konzentriert bei der Sache ist und sich aus den drei Teilbildern nach Kräften ein eigenes, fehlerfreies Riesenbild imaginiert. Das Resultat ist eine kollektive Euphorie, die in der Wirkung mehr einem Live-Event ähnelt als der Wiedergabe einer Technikkonserve.
Dabei sind die Cinerama-Filme alles andere als cineastische Meisterwerke. Konzipiert als Gegengift zum damals gerade massenweise aufkommenden Fernsehen, häuften sie Schauwert auf Schauwert, ohne sich viel um Dramaturgie und andere Finessen zu kümmern. Am bekanntesten ist bis heute der Riesen-Western "How The West Was Won" ("Das war der Wilde Westen") geblieben, einer von nur zwei Spielfilmen, die in diesem Verfahren hergestellt wurden. Schon der zweite, die episodische Grimm-Biographie "The Wonderful World Of The Brothers Grimm" ("Die wunderbare Welt der Gebrüder Grimm") ist heute kaum mehr anzusehen - und das im doppelten Sinn: Die Cinerama-Kopie, die in Bradford von diesem Film gezeigt wurde, ist die weltweit einzige noch existierende!
Den Rest stellen Reisefilme wie "South Seas Adventure" ("Südseezauber") oder "Seven Wonders of the World" ("Die sieben Weltwunder"), die seinerzeit alle auch im Gartenbau gelaufen waren. Ihre Attraktivität verdankte sich nicht zuletzt dem Umstand, daß Fernreisen in den Fifties noch längst nicht zum Alltag gehörten. Dank der Gnade der frühen Geburt kann ich mich an den hypnotischen Sog, den diese an sich nicht rasend aufregenden Landschafts- und Flugaufnahmen entwickelten, noch genau erinnern. Mein Stammplatz im Gartenbau der 60er Jahre war die 14. Reihe, der Ecksitz beim Mittelgang ...
Nicht in Wien gelaufen war der Auftakt- und Demonstrationsfilm "This is Cinerama!", und der ist ein besonderes Kuriosum. Er besteht nur aus Tableaus, die das neue Format möglichst effektvoll demonstrieren sollten: die erwähnte Hochschaubahnfahrt, aber auch ganze "Aida"-Szenen aus der Mailänder Scala, aufgenommen in starrer Mittelachsensymmetrie, schier endlose Bilder wasserskifahrender Sportlerinnen aus dem amerikanischen Cypress Garden in Florida und, besonders eigenwillig, eine Episode aus Wien, in der Sängerknaben in Lederhosen im Burggarten eine gesungene Version des Donauwalzers zum Besten geben.
So schlicht sich das jetzt lesen mag - bei guter Projektion (und die in Bradford war state of the art!) kann man von all dem nicht genug kriegen! Vor allem auch der (Magnet-)Ton beschert ungeahnte Wonnen: Füllig und weich, nie aggressiv, dabei durchhörbar vom grollendsten Baß bis zum ätherischsten Knabensopran; da kommt kein Dolby-Digital-Sound auch nur im entferntesten mit.
Nach nur sieben Filmen (oder, wenn man das verwandte "Cinemiracle"-Verfahren mit dem Titel "Windjammer" dazurechnet, acht) hatte Hollywood genug vom Drei-Streifen-Cinerama. Während sich Rußland und Asien mit technischen Kopien des Verfahrens mühten, ging die westliche Filmindustrie auf den (zunächst noch unter dem Cinerama-Label vermarkteten) 70-mm-Film über. Der brachte, ganz im Gegensatz zu Cinerama, mit Titeln wie "Lawrence of Arabia", "Playtime" und "2001 – A Space Odyssey" auch künstlerisch Relevantes zustande. Doch sämtliche heute noch aktuellen Breitwandverfahren (von CinemaScope bis IMAX) verdanken sich letztlich dem Impuls, den Cinerama in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gesetzt hatte.
Daß das Gartenbau-Kino in Wien ab Herbst (zwar nicht Cinerama, das ist technisch nicht mehr rekonstruierbar, aber) wieder 70-mm-Filme zeigen will, ist mehr als nur ein Zeichen. In einer sich radikal wandelnden digitalen Kinowelt wird ganzen Generationen heutiger Filmfreunde demonstriert, zu welchen Höhenflügen auch das analoge Kino einst imstande war.
Kommentare_
Danke für diesen wunderschönen Artikel! Altersbedingt konnte ich leider "nur" den Zauber mancher herrlichen 70MM Vorführungen genießen, doch selbst die Erinnerung an dieses im Vergleich zu CINERAMA "abgespeckte" Format, lässt mich noch wohlig erschauern..
Mit Freuden verfolge ich den Versuch der "Wiederbelebung" von 70MM seit einiger Zeit, bin aber unglaublich deprimiert wie wenig Echo die Ankündigung zu Viennale gefunden hat. Es scheint so als würde es mittlerweile an "wissenden" Journalisten fehlen. Was für eine Wohltat solch liebevolle, sachkundige Artikel zu lesen!