Kino_Die Vergessenen

Keine Nachricht von Sam

Der viel beworbene Psychothriller von Joseph Ruben beginnt durchaus vielversprechend, scheitert aber an seiner banalen Auflösung, die sich zudem viel zu früh abzeichnet.    11.11.2004

Im Mittelpunkt des Geschehens von "Die Vergessenen" steht eine leicht neurotische Frau namens Telly Paretta (Julianne Moore), die seit Monaten um ihren verstorbenen Sohn Sam trauert und sich dabei immer mehr von ihrer Umwelt abkapselt. Plötzlich jedoch wollen Ehemann (Anthony Edwards) und Psychiater (Gary Sinise) ihr weismachen, daß es Sam nie gegeben hat, daß sie mit der Erinnerung an ihn nur eine Fehlgeburt kompensiert habe.

Verzweifelt sucht Telly nach Beweisen für die Existenz ihres Sohnes - und ihre geistige Gesundheit. Aber vergebens: Alle Photos und Videos von Sam sind verschwunden. Auch in der örtlichen Bibliothek sind keine Zeitungsberichte über den Flugzeugabsturz, bei dem der Kleine ums Leben kam, mehr zu finden. Tellys einzige Hoffnung ist nun Ash Correll (Dominic West), dessen Tochter ebenfalls bei dem Flugzeugunglück starb. Doch auch Ash scheint sich zunächst nicht mehr an sein Kind erinnern zu können. Aber warum sind nun plötzlich FBI und NSA hinter den beiden her?

So weit, so spannend. Bis zu diesem Punkt gelingt Regisseur Joseph Ruben ("Der Feind in meinem Bett") ein solider Psycho-Thriller, der die Protagonistin und damit den Zuschauer in ein verwirrendes Katz-und-Maus Spiel verwickelt. Ist Telly tatsächlich verrückt oder ist hier eine riesige Verschwörung im Gange? Wie verläßlich ist die Wahrnehmung der Hauptperson - und wie vertrauenswürdig sind somit auch die Bilder, die wir zu sehen bekommen?

Leider kommt Telly bereits nach der Hälfte des Films auf die allzu banale Lösung des undurchsichtigen Geschehens, und danach ist kein Platz mehr für derartige Fragestellungen. Weiterer unnötiger Ballast wie Handlungslogik oder plausible Charakterführung bleibt ebenfalls auf der Strecke. Stattdessen reihen sich wilde Verfolgungsjagden an pathetische Dialoge, garniert mit überflüssigen Schockeffekten. Die Erwartungshaltung, die Ruben in der ersten Hälfte des Films weckt, verpufft in unfreiwilliger Komik. Bedauerlich, daß bei einem Film, der anfangs so gekonnt Spannung und Atmosphäre aufbaut, letztlich doch nicht mehr herauskommt als ein belangloser "Akte X"-Abklatsch.

Anne Herskind

Die Vergessenen

ØØ

(The Forgotten)


USA 2004

91 Min.

dt. Fassung und OF

Regie: Joseph Ruben

Darsteller: Julianne Moore, Gary Sinise, Dominic West u. a.

 

Links:

Kommentare_

Video
Lichter der Vorstadt

Vive la tristesse

Der Abschluß von Kaurismäkis "Trilogie der Verlierer" widmet sich auf konsequente Weise dem Thema Einsamkeit. Berühren kann der Film jedoch nicht.  

Kino
28 Weeks Later

Auf die Plätze, fertig, Rage!

In London wütet erneut die Apokalypse - und wie! Die Fortsetzung von Danny Boyles Endzeit-Thriller "28 Days Later" hat in Sachen Härte und Action deutlich zugelegt.  

Stories
Berlinale 2007/Journal III

Forum für Skurriles

Es gibt viele Strategien, sich sein individuelles Festival-Programm zusammenzustellen. Im Fall der Berlinale scheint zu gelten: Je weniger Filme des offiziellen Wettbewerbs man anschaut, desto größer sind die Chancen, eine ganze Reihe spannender Entdeckungen zu machen.  

Stories
Berlinale 2007/Journal II

Elefanten im Porzellanladen

Die Berlinale im Blutrausch: In Zack Snyders Comic-Verfilmung "300" türmen sich die Leichenberge, der Protagonist von Okamoto Kihachis "Sword of Doom" metzelt einem Besessenen gleich seine Gegner nieder, und in Mitchell Lichtensteins "Teeth" wütet eine bissige Vagina unter der männlichen Bevölkerung.  

Stories
Berlinale 2007/Journal I

Cyborgs und blinde Samurai

Anne Herskind besucht für den EVOLVER wieder das Berliner Filmfestival. Ihr erster Bericht: Filme aus Japan und Südkorea behandeln einfühlsam bis skurril die Themen Außenseitertum und Einsamkeit - aber auch die befreiende Wirkung der Liebe.  

Video
Factotum

Na dann Prost!

Matt Dillon als Alter ego von Charles Bukowski? Das klingt zwar etwas gewagt, funktioniert aber in diesem Trinkerfilm über weite Strecken erstaunlich gut.