Das Mädchen, das die Seiten umblättert
ØØØØ
(La tourneuse de pages)
F 2006
OmU
85 Min.
Regie: Denis Dercourt
Darsteller: Catherine Frot, Déborah François, Pascal Greggory u. a.
Der französische Regisseur Denis Dercourt zeigt in einnehmend kühlen und ruhigen Bildern die Geschichte zweier Frauen, verbotene Zuneigung, geschenktes Vertrauen, latente Wut und teuflischen Groll. 11.05.2007
Die zehnjährige Mélanie tritt zur Aufnahmeprüfung am Konservatorium an. Jahrelang hat sie sich auf diesen Moment vorbereitet - und die harte Arbeit macht sich bezahlt, als alle Juroren begeistert ihrem Klavierspiel lauschen. Plötzlich verschafft sich jedoch eine aufdringliche Autogrammjägerin Zugang zum Saal, um von Ariane Fouchécourt, einer berühmten Pianistin und der Vorsitzenden der Jury, eine Unterschrift zu ergattern. Ariane erfüllt diesen Wunsch bereitwillig, ohne zu ahnen, welche Konsequenzen ihr unhöfliches Verhalten haben wird: Mélanie verliert durch die simple Unaufmerksamkeit völlig die Fassung. Die Sonate verstummt, das Mädchen sitzt verstört auf dem Klavierhocker. "Du hättest nicht unterbrechen müssen", ruft ihr Madame Fouchécourt unwillig zu. Aber Mélanie kann nicht weiterspielen, zu groß ist ihre Entrüstung, zu tief ist sie verletzt. Das Vorspielen ist verpatzt, der Traum vom Konservatorium dahin.
Die Kleine wird mit dieser Erfahrung auf ihre eigene Art und Weise fertig. Mit beängstigend eiserner Entschlossenheit und ohne mit der Wimper zu zucken sperrt sie alles, was ihr von der Musikkarriere geblieben ist, in die Wohnzimmerkommode. Nie wieder will Mélanie Klavier spielen.
Zehn Jahre später kreuzen sich die Wege von Mélanie und Ariane wieder. Dabei hilft die Jüngere dem Zufall etwas auf die Sprünge: Als Kindermädchen wird sie Teil des Haushalts der Fouchécourts. Ariane ist noch immer eine angesehene Klaviervirtuosin, aber inzwischen hypertraumatisiert. Seit einem Autounfall plagen sie Angstzustände und Panikattacken. Während ihr Lampenfieber bei jedem Auftritt steigt, ist ihr Selbstbewußtsein inzwischen auf den Nullpunkt gesunken. Umso härter muß sie an sich arbeiten. Deshalb soll Mélanie liebevoll für den kleinen Tristan sorgen, während die Mutter an ihren Sonaten feilt. Als bekannt wird, daß Mélanie Noten lesen kann, wird sie zu ihrer Umblätterin - eigentlich ein harmloser Studenten-Job, für Mélanie jedoch der Auftakt zur Umsetzung ihres teuflischen Racheplans.
Ariane steht ein wichtiger Konzertauftritt bevor, der über ihren Erfolg oder Untergang als Pianistin entscheiden wird. Je näher der Termin rückt, desto hilfloser fühlt sich die Pianistin den Launen ihrer Nerven ausgesetzt. Auf der Suche nach Halt und Sicherheit schenkt sie nichtsahnend ausgerechnet Mélanie immer größeres Vertrauen und macht schließlich nicht nur das Klavierspiel, sondern auch sich selbst von der Umblätterin abhängig. Als Ariane an ihrem großen Abend auf die Bühne gerufen wird, ist Mèlanie aber verschwunden ...
"Das Mädchen, das die Seiten umblättert" ist Denis Dercourts fünfter abendfüllender Spielfilm. Bereits zum dritten Mal läßt sich der Regisseur von der Welt der Musik inspirieren. 1999 erzählte er mit "The Freelancer" von einer Gruppe Musiker auf Werkvertragsbasis; vier Jahre später blickte er mit "My Children Are Different" in die Abgründe des Daseins einer Musikerfamilie.
Das ist kein Zufall: Dercourt ist selbst Musiker und hat jahrelang am Straßburger Konservatorium Kammermusik unterrichtet. Diesmal konnte das Multitalent eine hochkarätige europäische Schauspielertruppe verpflichten, die auch jenseits des Rheins - zumindest dem Namen nach - bekannt ist: Catherine Frot spielte in zahlreichen französischen Komödien (etwa "Zwei ungleiche Schwestern", 2004), Déborah François überraschte 2006 mit ihrem Debüt "Das Kind" in Cannes, und Pascal Greggory kennt man als hinterhältigen Verwandlungskünstler aus der Kinoverfilmung von "Arsène Lupin".
Die schauspielerische Leistung aller Beteiligten ist in der Tat ausgezeichnet. François - in der Rolle der Mélanie - erzielt mit minimaler Mimik und irrem Blick eine wunderbar verstörende Wirkung. Ihre Undurchschaubarkeit fasziniert den Zuschauer und Ariane (Frot) gleichermaßen. Die wiederum versteht es wunderbar, nach und nach die Kontrolle zu verlieren, um sich schließlich willenlos den hinterhältigen Machenschaften ihres Babysitters hinzugeben.
Von einer richtigen "Heldin" kann man in Dercourts Werk nicht sprechen. Zu Beginn des Films identifiziert man sich eher mit der gekränkten und verkannten Mélanie, weil Rache eben menschlich ist. Als jedoch klar wird, daß die Kleine gar nicht so putzig ist, wie sie dreinschaut, und klare Anzeichen von Geisteskrankheit zeigt, wendet sich die Sympathie des Zusehers dem neurotischen Wrack Ariane zu. Aus der Bösen wird die Gute (oder zumindest Bemitleidenswerte), aus der Armen die Gruselige.
Der rote Faden von "Das Mädchen, das die Seiten umblättert" wurde äußerst penibel von jeglicher Nebenhandlung befreit, wodurch die Story ab und an berechenbar erscheint. Doch so klar die Geschichte des Films auch wirken mag, so vage sind die Motivationen und Beweggründe des Frauenduos. Zwischen Ariane und Mélanie entsteht eine undurchsichtige, unheilverkündende Spannung, zu deren wenigen expliziten Anhaltspunkten die flüchtige Berührung ihrer Hände bei einem Versteckspiel und zweideutige Blicke bei den Konzertproben gehören. Hier ist Raum für Doppeldeutigkeit, die der linearen Story Tiefgründigkeit verleiht und den Zuseher vor spannende Interpretationsaufgaben stellt. Interessant zu beobachten sind deshalb besonders die Reaktionen des Publikums, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Symptomatisch dafür war die Frage eines Herrn bei der Podiumsdiskussion nach der Präsentation des Films beim "Festival du Cinema Français" (im Votiv-Kino): "Hab´ ich den Film nicht verstanden - oder warum hat keiner gelacht?"
Für das mitreißende Tempo des Films ist in großem Maße das Zusammenspiel des Duetts François-Frot verantwortlich. Applaus verdient aber auch das Kunststück Dercourts, mit so wenigen Stimuli dem Zuschauer soviel Reaktion abzuverlangen und seine Atmung ohne viel Trommelwirbel und Paukenschlag aus dem Takt zu bringen. "Das Mädchen, das die Seiten umblättert" ist eine gelungene Komposition aus stimmungsvollen Bildern und leisen Tönen.
Das Mädchen, das die Seiten umblättert
ØØØØ
(La tourneuse de pages)
F 2006
OmU
85 Min.
Regie: Denis Dercourt
Darsteller: Catherine Frot, Déborah François, Pascal Greggory u. a.
Zumindest zuckerlsüßes und kunterbuntes Pomp- und Pop-Kino hatte man sich im Vorfeld von Sofia Coppolas drittem Film erwartet. Bekommen hat man aber nicht einmal das, sondern bloß in Pastelldelirium eingehüllte erzählerische Unzulänglichkeiten.
Der französische Regisseur Denis Dercourt zeigt in einnehmend kühlen und ruhigen Bildern die Geschichte zweier Frauen, verbotene Zuneigung, geschenktes Vertrauen, latente Wut und teuflischen Groll.
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