Games_Mirror´s Edge

Bewegungslehre

Früher kletterte man auf einen Baum und schwang sich à la Tarzan mit Lianen von Ast zu Ast. Heute aber werden Geländer zu Ästen und Dächer zu Baumkronen.    15.12.2008

Der Franzose David Belle lernte von seinem Vater Raymond, einem Vietnamveteranen, die "methode naturelle", eine Kunst der Bewegung durch die Landschaft mit ihren natürlichen Hindernissen, im Einklang mit Natur und Umwelt. Ende der Achtziger übertrug David diese Methode der Fortbewegung auf die urbane Landschaft eines Pariser Vororts. Das Experiment gilt als Geburtsstunde des "Parkour" und seiner Ausübenden, der sogenannten "Traceurs". Bekannt wurde die Sportart durch den "Nike"-Werbespot, den James-Bond-Streifen "Casino Royale" und Luc Bessons Film "Banlieue 13" (dt. "Ghettogangz - Die Hölle vor Paris"), in dem der Gründer des Parkour sogar eine Hauptrolle übernimmt.

In Spielen wurde die Kunst des Gebäudelaufs bis jetzt einzig in der "Prince of Persia"-Reihe aufgegriffen. Nun setzt EA der außergewöhnlichen Sportart ein digitales Denkmal. "Mirror´s Edge" ist der erste Titel, in dem der Spieler explizit einen "Traceur" - oder, besser gesagt, eine "Traceurin" spielt.

In naher Zukunft sind Verbrechen nur noch eine Erinnerung. Der größte Teil der Bevölkerung opfert liebend gern seine Freiheit für ein bequemes Leben unter den Augen Big Brothers; alle Informationen unterliegen einer strengen Zensur. Inmitten dieser "Brave New World" gibt es jedoch eine Gruppe junger Menschen, die auf ihre ganz eigene Art und Weise gegen das vorherrschende System ankämpft - die "Runner". Im Grunde sind sie eine Art moderner Botendienst, der Informationen heimlich und auf schnellstem Weg von einem Ort zum anderen transportiert. Die Story von "Mirror´s Edge" spielt vor diesem Hintergrund und handelt von Intrigen und Mord; sie ist aber eher belanglos und dient in erster Linie dazu, all die schönen "Speedruns" über Dächer und durch Bürogebäude unter einen Hut zu bringen.

Nach nur wenigen Minuten Einarbeitungszeit fühlt man sich sofort in die eigentümliche Cel-Shading-Welt der "Runner" hineinversetzt - und zwar so, daß man den Controller am liebsten gar nicht mehr zur Seite legen will, bis man endlich den Abspann zu Gesicht bekommt. Das passiert leider schneller, als einem lieb sein kann. Selbst Anfänger werden das Spiel in etwa fünf Stunden durchgespielt haben. Was danach noch bleibt, sind die verschiedenen Zeitrennen, in denen man die einzelnen Kapitel des Spiels so schnell wie möglich beenden muß.

"Mirror´s Edge" verleitet mit seiner klaren HD-Optik, exzellenter Kameraführung und einem treibenden Soundtrack beinahe dazu, vom Sofa aufzustehen und aufs nächste Dach hinauszuhüpfen - einfach nur, um dieses Gefühl der Freiheit und Agilität auch in der Realität zu erleben. Die Euphorie hält zumindest so lange an, bis man sich der eigenen körperlichen Verfassung bewußt wird und dann doch lieber auf dem Sofa sitzenbleibt. Schließlich gibt´s ja die virtuelle Welt, in der man die Königin der modernen Artistik spielen darf ...

Dragan Andjelkovic