Da der hilflose
Bewohner der westlichen Welt heutzutage schon Kurse über "Richtig
atmen" und ähnliche körperliche Grundfunktionen besuchen muß,
konnte auch eine Schule für das Gehen nicht ausbleiben. Benny
Denes traf für sein neues ungewöhnliches Berufsporträt
den Gründer dieser würdigen Institution.
Der Gehlehrte
Manchmal ist der Weg zu dem Ort,
an dem ein Interview stattfindet, schon eine gute Vorbereitung auf das
Gespräch, das man gleich führen will. Auf den Spaziergang vom
Frankfurter Hauptbahnhof zu einem Café in der Altstadt trifft diese
Eigenschaft definitiv zu. Das liegt nicht etwa an den spezifischen Eigenschaften
der Mainmetropole, sondern eher an der Tatsache, daß das Interview
mit dem Laufen in der Großstadt zu tun haben wird. Falsch geraten
- bei den Stichwörtern "Frankfurt" und "Laufen" geht es nicht etwa
um die Erlebnisse Joschka Fischers, sondern vielmehr um die Fortbewegung
per pedes per se. So (also: "Per Pedes") jedenfalls heißt die Schule
von Harald Struck, meinem Gesprächspartner an diesem trüben Donnerstag,
der bei meinem Eintreffen bereits seinen Maté-Tee trinkt und aufmerksam
aus den Fensterscheiben des Cafés schaut, in dem wir verabredet
sind.
EVOLVER: Sie haben meine Hosen
angeguckt. Gefallen sie ihnen nicht?
Harald
Struck: Die Hosen sind durchaus anständig; ich habe allerdings
mehr Ihren Gang betrachtet.
EVOLVER: Und was ist Ihnen
aufgefallen?
Struck:
Sie geben mehr Selbstbewußtsein vor, als Sie haben. Sie scheuen den
Kontakt zu einfachen Menschen. Sie finden sich zu dick. Sie sind solo.
EVOLVER: Letzeres ist zwar
falsch, aber der Rest haut hin. Woran haben Sie das erkannt?
Struck
(lacht): Das gehört zu meinem Beruf. Und zu dessen Geheimnis!
EVOLVER: Verstehe. Das ist
Psychologie.
Struck:
Die Psychologie habe ich vier Jahre lang studiert. Dann bin ich zu den
Soziologen gewechselt. Feldforschung, Stichproben, Experimente. Da habe
ich mein Handwerk erlernt.
EVOLVER: Das heißt, Sie
haben den Gang ihrer Mitmenschen beobachtet und Aufzeichnungen gemacht?
Struck:
Genau - das heißt, nicht nur den Gang. Auch das Spazier- und Marschierverhalten
habe ich untersucht. Die Schrittfolge, die Armbewegungen. Ich habe nach
Übereinstimmungen, nach Verhältnismäßigkeiten gefragt.
EVOLVER: Was gibt es da für
Beziehungen?
Struck:
Das ist eigentlich ganz naheliegend: Mann, breiter Gang, breiter Schritt,
aber eng anliegende Arme. Das ist ein Poser. Der kaschiert etwas.
EVOLVER: Ist das immer so einfach?
Struck:
Natürlich nicht! Aber ich bin ja nicht in erster Linie Analyst.
EVOLVER: Sondern?
Struck:
Eher ein Lehrer. Ich betreibe eine Schule und unterrichte auch an Volkshochschulen
und bei Manager-Seminaren.
EVOLVER: Sie unterrichten im
Gehen! Einmalig!
Struck:
Stimmt nicht. Das gab es schon an königlichen Höfen im Mittelalter,
als den Thronfolgern nobles Verhalten beigebracht werden sollte. Außerdem
unterrichte ich auch Spazieren, Pedwalksurvival und Schulterstrategien.
EVOLVER: Immer der Reihe nach!
Spazieren kann man also lernen bei "Per Pedes"?
Struck:
Genau. Man kann balladieren, beim Spazieren zielstrebig wirken und auch
kontaktfreudig laufen.
EVOLVER: Wie denn?
Struck:
Hände in die Manteltaschen, wiegender Schritt, im Minutentakt den
Scheitel glätten, immer wieder stehenbleiben.
EVOLVER: Und dann?
Struck:
Werden Sie eher angesprochen, als wenn Sie anders laufen.
EVOLVER: Muß ich einmal
ausprobieren. Was ist "Pedwalksurvival"?
Struck:
Rush-hour in der Fußgängerzone. Sie wollen mit zwei schweren
Beuteln einfach nur zum Auto, halten sich an Ihre Spur und müssen
dennoch ausweichen. Ständig und trotzdem werden Sie angerempelt.
EVOLVER:
Kenne
ich! Ich weiche aber nur Damen und Bodybuildern aus.
Struck
(lacht): Falsche Taktik. In meinem Kurs lernen Sie, wie Sie
andere ausweichen lassen.
EVOLVER:
Bleiben noch die "Schulterstrategien"!
Struck:
Das ist in der Schule der letzte Schrei. Ich gebe darin vier Kurse pro
Woche!
EVOLVER: Und worum geht es
dabei?
Struck:
Um Körperhaltung als Fixpunkt nonverbaler Kommunikation. Die Körpersprache
wird meist auf Gestik und Mimik reduziert verstanden.
EVOLVER: Welche Rolle spielen
die Schultern?
Struck:
Sehen Sie, in der ersten Stunde eines neuen Kurses ziehe ich immer den
Vergleich zwischen Mensch und Flugzeug. Die Schultern sind wie die Flügel.
Man kann mit ihnen abheben, beschleunigen, lenken und auch wieder landen.
Das Zusammenspiel mit dem Auftreten - und das meine ich wörtlich -
ist entscheidend für die Aussage, die ein Mensch vermittelt.
EVOLVER: Klingt plausibel.
Wie läuft denn die Schule?
Struck:
Inzwischen gut. Aber erst seit die Gerüchte um die Einführung
des Fußgänger-Führerscheins im Umlauf sind. Jetzt rennen
mir die Leute die Bude ein.
EVOLVER:
Wie war das? Fußgänger-Führerschein?
Struck:
Sagen Sie bloß, Sie wissen das nicht?
EVOLVER: Ich hab keine Ahnung,
wovon Sie sprechen!
Struck:
In Stuttgart und in Frankfurt werden bestimmte Bürgersteige, sogenannte
Fastways, ab dem nächsten Frühjahr nur noch für Inhaber
einer besonderen Geherlaubnis freigegeben sein.
EVOLVER: Wann wurde das beschlossen?
Struck:
Auf dem Urbanistik-Kongreß der EU im Oktober 1999 in Helsinki. Die
Straßen für dieses Projekt stehen aber im einzelnen noch nicht
fest.
EVOLVER:
Das überrascht
mich doch jetzt sehr...
Struck:
Hier haben Sie eine aktuelle Seminarliste von "Per Pedes". Vielleicht kann
ich ja auch Ihnen helfen!
Auf den neuen Fußgänger-Führerschein
werden wir mit einem ausführlichen Faction-Special im September eingehen.
Nach neuesten Informationen soll auch eine österreichische Metropole
in das Projekt einbezogen werden.
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