Editorial_19. 10. 2006

Alternativspießer

Manche nehmen die unangenehmen Eigenschaften der Mächtigen bereits an, bevor sie an die Macht kommen - und warnen uns damit schon jetzt vor ihrer Herrschaft.    24.10.2006

Liebe EVOLVER-Leser und -innen!

 

Der Politiker Heinz-Christian Strache hat im Staatsfernsehen kürzlich über längst vergangene glorreiche Tage erzählt. Da soll einst anläßlich einer großen Versammlung von "Seitenblicke"-Elitisten in der Wiener Oper das Fußvolk auf der Straße Sachschäden angerichtet haben - im Rahmen einer sogenannten Opernball-Demo. Der Zorn der zerlumpten Plebs dürfte sich da angesichts dieses vulgären Aufmarschs selbstvergessener Protzer und Prasser entladen haben. Und der Politiker Peter Pilz, zur gleichen Zeit im Live-Studio besagten Staatsfernsehens vorstellig geworden, soll laut des zuletzt als Popmusik-Dilettanten auffällig gewordenen Strache dabeigewesen sein - was schnurstracks eine Klage von Pilz gegen Strache nach sich gezogen hat.

Was heißt das jetzt? Ist Peter Pilz etwa nicht bei der Opernball-Demo dabeigewesen? Ganz offensichtlich nicht, sonst würde er nicht so selbstbewußt die Justiz mit dieser Sache belästigen. Wäre auch kaum vorstellbar. Pilz gehört einer Partei an, deren Aushängeschilder sich aus der wohlhabenden Gemächlichkeit ihrer bürgerlichen Existenz heraus bemüßigt fühlen, das Taferl der Toleranz und Nächstenliebe um den Hals zu tragen. "Alternativspießer" ist die gängige Bezeichnung für solche Leute. Und anzunehmen, diese Existenzen hätten so viel Volksnähe, daß sie sich unter die Zaungäste einer Opernball-Demo mischen würden, ist offenbar ganz verkehrt. Viel zu schmutzig da unten.

Mehr als wohlwollendes, rhetorisches Verständnis für das Gewürm auf der Straße kann man von einem Politiker ja auch wirklich nicht verlangen. Jenen, die sich zu einer gewissen Extrovertiertheit hingerissen fühlten, als sich herausstellte, daß die Partei, der Pilz angehört, von ein paar Maxeln mehr gewählt wurde als die von Strache, sollten sich also hinter die Ohren schreiben: Viel zu früh gefreut! Weil wir Pilzens Partei auch diesmal nicht in einer Regierung sehen werden. Weil sie folglich wieder den Kopf aus der Schlinge der endgültigen Kompromittierung gezogen hat. Und weil sie voraussichtlich weitere vier Jahre durchs Epigonenprogramm des Staatsfernsehens kaspern wird, während irgendwelche anderen Parteien, die längst ihre Unschuld verloren haben, sich im Zeichen eines großangelegten, europaweiten Düsenflieger-Coups die Provisionen untereinander aufteilen.

Wir raten den wieder einmal von der Macht Ferngehaltenen daher zu einer Opernball-Demo im kleinen Rahmen zu Hause. Da kann man in einer alten Schüssel ein Matchbox-Polizeiauto anzünden, sich mit irgendwelchen Alternativspießerdrogen den Kopf vernebeln und die Internationale vor sich hinsummen. Und wer unbedingt muß, kann ja auch ein paar seiner Einrichtungsgegenstände zertrümmern. Da kommt dann auch die Polizei.

Den passenden Sound dazu und viele andere herrliche Methoden zum gediegenen Eskapismus finden Sie, werte Leser, wie immer im EVOLVER.

 

In diesem Sinne:

 

Viel Spaß beim Lesen wünscht

 

Klaus Hübner

(EVOLVER-Herausgeber und -Chefepigone)

Klaus Hübner

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