Video_Übergeschnappt - Bonnies verrückte Welt
Das Leben und das Mädchen
Richtig: Wir präsentieren Ihnen hier die Rezension eines Kinderfilmes. Nicht, weil wir etwa Sie für ... nein, bestimmt nicht. Aber es soll ja sogar unter EVOLVER-Lesern Eltern geben; und gute Produktionen für den Nachwuchs sind bekanntlich schwer zu finden. Erst recht solche, die man sich auch als Erwachsener anschauen kann.
20.12.2010
Es geht um Liebe. Es geht um Tod. Es geht um Sex. Nach den ersten zehn Minuten wird die Großmutter überfahren. Und weil die Mutter manisch-depressiv ist, soll die 10jährige Heldin auf Geheiß des Jugendamtes in ein Heim gesteckt werden. Derweil brät eine sinistre Nachbarin im Garten blutige Fleischteile unbekannter Herkunft ...
Nein, Sie sind hier nicht in der falschen Rezension gelandet; es handelt sich tatsächlich um einen Kinderfilm. Und zwar nicht um eine jener hysterischen Grotesken, deren Macher mit der Abgestumpftheit ihrer bildschirmgeschädigten Konsumenten spekulieren und Gebrüll plus Gekreische für rasend komisch halten. Erstaunlicherweise bleibt man aber auch von peinigendem Psychologisieren verschont.
"Übergeschnappt" ist ein warmherziger, lustiger Film, der seine Zuseher ernstnimmt - und sich mit Fragen auseinandersetzt, die nicht nur Kinder tatsächlich interessieren.
Eine Kleinstadt, irgendwo in Holland. Viel Grün zwischen den Holzhäusern, das Leben läuft eher gemütlich dahin. Bonnie (großartig gespielt von Jesse Rinsma) hat sich damit abgefunden, daß ihre Mutter (Carice van Houten) die meiste Zeit apathisch im Bett liegt, wenn sie nicht gerade eine ihrer hyperaktiven Zwischenphasen durchmacht.
Das Familienleben funktioniert trotzdem. Schließlich gibt es ja noch Oma, die sich um alles kümmert - ähnlich wie bei einer Elefantenherde, wo die Älteste das Kommando führt. So sieht es jedenfalls Bonnie; besagte Dickhäuter haben es ihr angetan, der Urgroßvater war nämlich Tierhüter in Afrika.
Als die Großmutter plötzlich stirbt, steht nicht nur das kleine Mädchen vor der Frage, wie man mit dem Tod eines geliebten Menschen umgehen soll. Obendrein meldet sich das Jugendamt ...
Gut, daß Bonnie einen Buben aus der Nachbarschaft zum Freund hat; und einen Lehrer, der sich zwar vorzugsweise fürs Essen interessiert, aber aufmerksamer ist, als die wohlgenährte Fassade vermuten ließe. Die Heldin wiederum beschließt, ihre Mutter zu verkuppeln, damit - zur Rettung des behördlichen Status’ "Familie" - Nachwuchs ins Haus kommt.
Es hätte sehr leicht eine alberne Komödie draus werden können; oder ein rührseliger Krampf, wie ihn bundesdeutsche Filmemacher so gern abliefern.
Regisseur Martin Koolhoven hingegen schafft es mit verblüffender Eleganz, solche Fallen zu umgehen. Natürlich gibt es auch Klamauk, aber der Humor kommt meist durch kleine Gesten oder unkommentierte Nebenhandlungen zum Ausdruck.
Die Tragik wird nicht verbrämt. Man sieht den tödlichen Unfall, und auch danach - die Tote wird daheim aufgebahrt - gibt es einige sehr direkte Szenen. Überhaupt ist der Mut bei Drehbuch und Regie zu bewundern, sich einen Schmarrn um Tabus bezüglich vermeintlich Kindgerechtem zu scheren.
Der Nachbarsbub erläutert genüßlich, wie die seltsame Alte mit den Leichen im Keller verfährt; eine Mutter merkt nicht, daß statt ihres Babys ein 2kg-Sack Pommes frites im Kinderwagen liegt; man sieht, wie ein Hengst eine Stute bespringt - und eine Reihe Kinder, die mit offenen Mündern zuschauen und sich von dem Anblick gar nicht losreißen können.
Zudem wird man auch als Erwachsener immer wieder von unvermuteten Wendungen überrascht. Ja, es gibt ein rührendes (und witziges) Happy End - aber nicht unbedingt so, wie der Plot ahnen ließe.
Sicher liegt es auch am zügigen, wenngleich nie hektischen Schnitt und dem eingängigen Soundtrack, daß man sich in den 81 Minuten nicht langweilt; oder an den schönen Bildern. Ein großes Kompliment haben aber ebenso die Darsteller verdient - und eine Personenführung, die dem Zuseher blödsinniges Grimassieren erspart.
Wer partout etwas Kritisierenswertes finden möchte: Man könnte heimtückisches Lob auf das Matriarchat herauslesen, oder auf "alternative Gesellschaftsentwürfe". Aber dann ist man selber schuld.
(P.S.: Der Film ist "ab 6" freigegeben. Der Autor hat ihn gemeinsam mit seiner neunjährigen Tochter gesehen und würde eher "8" als Untergrenze empfehlen.)
Marcus Stöger
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