Video_Tödliche Entscheidung
Ein amerikanischer Alptraum
Regie-Altmeister Sidney Lumet findet dank Drehbuchautor Kelly Masterson noch einmal auf die Höhe seiner Kunst zurück: In dem bitteren Thriller-Drama mit Philip Seymour Hoffman und Ethan Hawke läßt er einen morschen Familienverband untergehen.
24.10.2008
In der Ehe von Andy Hanson (Philip Seymour Hoffman), dem leitenden Angestellten eines New Yorker Wirtschaftsprüfungsunternehmens, kriselt es: Gattin Gina (Marisa Tomei), hat genug von der Beziehungsroutine und sehnt sich nach den exotischen Gefilden Brasiliens. Da Andy weder die rassige Gemahlin aufgeben will noch seinen kostspieligen Drogenkonsum einschränken kann, wählt er einen radikalen Lösungsansatz für das Geldproblem: einen Überfall auf den Juwelierladen seiner betagten Eltern (Albert Finney, Rosemary Harris). Dabei verläßt er sich auf die Hilfe seines chronisch erfolglosen, hochverschuldeten Bruders Hank (Ethan Hawke). Doch statt sich an die gemeinsame Abmachung zu halten, holt der schwachherzige Hank den Kleinganoven Bobby (Brian F. O´Byrne) mit an Bord - ein folgenschwerer Fehler, der eine Kettenreaktion auslöst und die Hansons in eine Tragödie stürzt.
Inmitten dieser familiären Katastrophe ziehen die Leidtragenden einander in den Abgrund. Jeder Versuch des Gegensteuerns verschlimmert die schicksalhafte Lose-Lose-Situation. Nanette, die Mutter des kriminellen Brüderpaars, wird zum ersten tragischen Kollateralopfer. Sie, die im vermeintlich idiotensicheren Raubplan Andy Hansons eigentlich überhaupt keine Rolle spielen sollte, ist zur falschen Zeit am falschen Ort und wird im unglückseligen Verlauf des gründlich mißratenen Überfalls tödlich verwundet. Auch der tölpelhafte Helfer Bobby stirbt, was wiederum dessen Hinterbliebenen die Möglichkeit eröffnet, den heillos überforderten Hank zu erpressen.
Mit "Tödliche Entscheidung" feiert Drehbuchautor Kelly Masterson einen beachtlichen Einstand. Es sind insbesondere seine messerscharfen Dialoge, die zur Kompaktheit und Geschliffenheit des pessimistischen Thrillers maßgeblich beitragen - hier wird kein Wort verschwendet. Die akkuraten Figurenzeichnungen bringt Lumet ökonomisch eindrücklich auf die Leinwand. Nahezu jede Einstellung des Altmeisters dringt unter die Oberfläche und seziert die dem Untergang geweihten Entscheidungsträger, deren Handlungen die eigene Auslöschung initiieren, beschleunigen und grausam abschließen. Mit Hilfe eines chronologisch zersplitterten Erzählstils beleuchtet er die Vorgeschichte der handelnden Figuren, ihre Motive sowie die Planung, Durchführung und die Folgen des verunglückten Sanierungsversuchs von Andy und Hank auf unterschiedlichen Zeitebenen.
Der nach außen hin überlegen auftretende Andy Hanson verliert die Balance in seinem gesellschaftlichen und beruflichen Dauerdrahtseilakt. Philip Seymour Hoffmans machtvolle Präsenz veredelt Andys Sturz ins Bodenlose. Ex-Kinderstar Hawke gelingt indes der unfertige Vollzeit-Loser Hank besonders gut: Hank ist vermutlich schon sein ganzes Erwachsenenleben hindurch ohne echte Bodenhaftung unterwegs. Seine kindliche Inkompetenz setzt schließlich einen tödlichen Selbstzerstörungsmechanismus in Gang. Dieser wird von Albert Finney als trauerndem und in seinen Grundfesten erschüttertem Witwer in einer grausam-schönen Szene vollendet.
50 Jahre nach seinem ersten Triumph ("Die 12 Geschworenen") landet Lumet noch einmal einen echten Volltreffer. Möge es nicht sein letzter gewesen sein.
Dietmar Wohlfart
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