Video_The Woodsman
Stigmata
Pädophile sind auch Menschen. Wie Nicole Kassell ihre thematische Film-Sprengstoffladung mit viel Geschick, Feinsinn und einem glänzenden Kevin Bacon entschärft.
14.12.2005
Nach zwölfjährigem Gefängnisaufenthalt wird Walter (Kevin Bacon) aus der Haft entlassen. Er ist jetzt Mitte vierzig, doch genaugenommen hat er sein Leben bereits hinter sich. Im Rahmen eines Resozialisierungsprogramms wird der Enthaftete in einem holzverarbeitenden Betrieb untergebracht. Aus seinem Familienverband wurde Walter - vermutlich auf Lebenszeit - längst verstoßen. Das letzte intakte Verbindungsglied zum familiären Anhang bildet somit der nonchalante Schwager Carlos (Benjamin Bratt). Der Verstoßene steht auch unter ständiger polizeilicher Beobachtung; insbesondere durch Sergeant Lucas (Mos Def), dessen tiefe Verachtung er sich stets gewiß sein kann. Denn Walter beging ein Verbrechen, das seinen gesellschaftlichen Status auf den eines geisteskranken Serienkillers absenkte: Er verging sich an zwei kleinen Mädchen, wurde überführt, verurteilt, weggesperrt und für den Rest seines Lebens gebrandmarkt. Wer den Delinquenten online begutachten will, kann das jederzeit tun; für Fälle wie Walter wurden von den Bundesstaaten offizielle Webseiten eingerichtet. Trotz Arbeitsstelle und zugewiesener Kleinwohnung sind seine Chancen, von nun an auf dem rechten Lebensweg zu verbleiben - und das wird statistisch untermauert - verschwindend gering. Die Verlockung, dem allgegenwärtigen Drang nachzugeben, ist groß. Und selbst, als sich zwischen Walter und seiner resoluten Arbeitskollegin Vicki (Kyra Sedgwick), eine tiefergehende Verbindung entwickelt, gerät er mit seinen ureigensten Instinkten in Konflikt.
Walters verzweifelte Bemühungen, seinen Trieb unter Kontrolle zu halten und sich einer feindlich gesinnten Umwelt zu erwehren, stehen im Zentrum von Nicole Kassells "The Woodsman", einer subtilen Annäherung an das prekäre Thema Kindesmißbrauch. Der innere Kampf des gebrochenen Außenseiters wird dabei behutsam durchleuchtet. Einfache, aber wirkungsvolle Metaphern verdeutlichen Walters Aufbäumen, sein zähes Ringen mit einem Dämon, der ihn fortwährend zu überwältigen droht. Regisseurin und Drehbuchautorin Kassell treibt ihre Geschichte in bedachtsamen Erzählschritten elegant voran. Sie verzichtet auf jede Form von Provokation oder Radikalisierung und konzentriert sich voll und ganz auf ihren Hauptcharakter, dem durch die wohldosierte Performance Kevin Bacons überzeugend Leben eingehaucht wird.
Sein Charakter leidet wahre Höllenqualen. Die herbe Vicki, die selbst ein in frühester Kindheit erlittenes Trauma abarbeitet, nimmt die Rolle der guten Samariterin ein und etabliert sich als ausgleichendes Element in Walters trostloser Welt. Doch ihre Anstrengungen, seine Drangperioden zu neutralisieren, reichen nur zu zeitweiligen Erfolgserlebnissen.
Bacon, der im Laufe seiner Karriere bereits einige verfemte Randfiguren der Gesellschaft porträtierte und unter anderem als schwuler Knastinformant in "J.F.K." oder kinderschändender Internatsaufseher in "Sleepers" auffiel, punktet mit demselben zurückhaltend-melancholischen Intensivspiel wie ehemals Robin Williams in "One Hour Photo". Kassell entwirft das Psychogramm eines gesellschaftlichen Parias ersten Grades. Sie arbeitet mit allerlei Symbolik und feiner, zuweilen bedrückender Bildästhetik. Ein bedrohlicher Schleier - akustisch verstärkt durch den Einsatz dunkler, elektronischer Percussion - liegt über ihrem Werk. Und doch existiert Raum für gefühlvoll inszenierte Lichtblicke: Die Konversation zwischen Walter und seinem vermeintlich nächsten Opfer, einer liebenswerten Jungornithologin (Hannah Pilkes), bleibt als berührender Höhepunkt des Films im Gedächtnis haften.
Fazit: "The Woodsman" steht für effiziente und anspruchsvolle Filmemacherei und ist feingliedrig, spannungsreich und bemerkenswert gespielt. Empfehlenswert!
Dietmar Wohlfart
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