Video_Martyrs
Horch, was kommt von draußen rein?
Im neuen französischen Horror-Thriller steht ganz bestimmt nicht das feine Liebchen vor der Tür. Stattdessen konfrontiert Pascal Laugier den Zuseher auf dermaßen intelligente und komplexe Weise mit dem Thema Kindesentführung, wie man das nur selten zu sehen bekommt. Der EVOLVER stellt sich mit einer Empfehlung und einer Warnung ein.
23.12.2008
Was ist nur mit den Franzosen los? Da gilt das Filmschaffen der Grande Nation über Jahrzehnte hinweg als Garant für feinsinnige Cineastenkost, die selten bis nie in die Niederungen des Genrekinos herabreicht - und in diesen Konsens treten (und das im wahrsten Sinne des Wortes) plötzlich Filme, die definitiv auf den üblichen Befindlichkeitsblödsinn pfeifen. Sind die etwas verschärften Beziehungsfilme à la mode (two words: "Baise-moi!") noch in erster Linie dazu da, mit Hilfe ach-so-liederlicher Fickfilmchen-Einsprengsel ein mit dem Post-68er-Reinheitsgebot filmischer Korrektheit sozialisiertes Arthaus-Publikum zu einem erstaunten "Huch!" zu animieren, so schaut´s im Horror-Genre anders aus: Da hat es nämlich "L´Horreur" bis jetzt noch gar nicht richtig gegeben.
Dafür haben wir jetzt "Martyrs". Und das gleicht so manches aus.
Im Land der Liebe und der Croissants heizte "Martyrs" gleich einmal die Zensurdebatte neu an: Manche Kritiker sprechen vom Untergang des Kinos, andere hingegen von einer Neuerfindung. Lassen wir das und schauen wir uns lieber an, worum es eigentlich geht: Frankreich, Anfang der 70er. Ein kleines Mädchen rennt völlig verstört und nur mit Unterwäsche bekleidet eine einsame Straße entlang. Es ist Lucie, die seit etwas mehr als einem Jahr vermißt wird. Als man sie findet, können die Ermittler nur ihren schlechten körperlichen Zustand konstatieren - sexueller Mißbrauch ausgeschlossen. Sicher ist nur: Lucie ist entführt worden. Die Polizei findet auch den früheren Aufenthaltsort des Mädchens, von den Entführern fehlt jedoch jede Spur; auch Lucie kann zu deren Identität keine Angaben machen. Man steckt sie in eine Klinik, wo sie sich mit der Mitpatientin Anna anfreundet. Der gesteht Lucie eines Tages, daß sie seit ihrem Auffinden von grausigen Erscheinungen gequält wird, die ihr mitunter auch schwerste körperliche Verletzungen zufügen.
15 Jahre später. Lucie steht vor der Tür eines gepflegt-langweiligen Vorstadthauses. Drinnen sitzt eine unauffällige Mittelklassefamilie um den sonntäglichen Frühstückstisch. Lucie klingelt - und hält ein Gewehr bereit ...
Was folgt, ist einer der härtesten und zugleich raffiniertesten Horrorfilme überhaupt, in zum Teil bedrückend schönen Bildern in Szene gesetzt. Nicht zufällig läuft beim Abspann eine Widmung an Dario Argento, der ja vor vielen Jahren (etwa zu jener Zeit, in der sich "Martyrs" abspielt) sowas wie ein ungekrönter König poetisch-grausamer Horrorvisionen war, bevor ihn Mittelmaß und Verlust jeglicher Inspiration bis zur Beinahe-Unkenntlichkeit verändert haben.
Das kann man "Martyrs" nicht vorwerfen. Selten war ein Genrefilm der letzten Jahre dermaßen mitreißend - und zwar ohne zuvor ein Abgeben des Zuschauerhirns an der Garderobe einzufordern. Nicht zuletzt deshalb sind die immer wieder angeführten Vergleiche von "Martyrs" mit "Hostel" oder der inzwischen völlig degenerierten "Saw"-Reihe genauso dumm wie unnötig. Selten wurden einerseits brachiale, extreme Gewaltdarstellung und andererseits erzählerische Komplexität dramaturgisch dermaßen stimmig eingesetzt wie hier.
Will man unbedingt Vergleiche anstellen, so müßte man ein wenig in der Filmgeschichte zurückblicken: Argento paßt da recht gut - und wenn man will, darf man auch die Bilderwelt von Kubricks "Shining" heranziehen, auch wenn inhaltlich Welten dazwischenliegen. Und ähnlich wie Kubrick besitzt auch Regisseur Laugier, so wie die Kollegen Xavier Gens und Alexandre Bustillo mit ihren Filmen "Frontier(s)" und "Inside" (beide: 2007), eine gefährlich-verführerische Nähe zum roten Saft - und eine recht eigenwillige Sicht der Dinge. Bei Europas größtem und wichtigstem Horrorfilm-Festival, dem "Festival Internacional de Cinema de Catalunya" 2008 im spanischen Sitges, riß der Film das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin und erhielt den Preis "Silver Méliès for Best European Motion Picture".
Also letztendlich doch irgendwie wieder ein französischer Autorenfilm? Wenn man einem Filmemacher zubilligt, nicht ausschließlich Erfüllungsgehilfe filmkünstlerisch ahnungsloser Investoren zu sein, dann auf jeden Fall. Aber Vorsicht: Dieser Film kann Ihre mentale Gesundheit gefährden! Und Ihnen nachhaltig den Appetit verderben.
In diesem Sinne: Es ist angerichtet.
Thomas Fröhlich
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