Video_Jesus Christus Erlöser

Peitsche in die Fresse

Bald 40 Jahre ist es her, daß Klaus Kinski die Geschichte vom Heiland auf seine Art erzählen wollte. Der Auftritt geriet zum Desaster - doch nie wieder wurde die Botschaft seither so glaubwürdig verkündet.    02.03.2010

Ich bin gekommen, die erregendste Geschichte der Menschheit zu erzählen: Das Leben von Jesus Christus. Ich spreche nicht von dem Jesus mit der gelben leberkranken Haut, den eine irrsinnige menschliche Gesellschaft zur größten Hure aller Zeiten macht. Dessen Kadaver sie pervers mit sich herumschleppt an infamen Kreuzen. Ich spreche von dem Abenteurer, dem furchtlosesten, modernsten aller Menschen, der sich lieber massakrieren läßt, als lebendig mit den anderen zu verfaulen.

Deutschland. Wir schreiben das Jahr 1971.
Eben erst wurde die "Rote Armee Fraktion" gegründet. Die intellektuelle Revolution ist längst zur Terrorbewegung mutiert: schon drei Jahre zuvor starben hunderte Menschen bei einer politisch motivierten Brandstiftung. Die führenden Köpfe der "Linken" lassen sich von der Fatah in Jordanien ausbilden, während ihre studentischen Anhänger daheim Mao Zedong und Ho Chi Minh akklamieren.
Zeitgleich erlangt die aus den USA herübergeschwappte Hippie-Welle mit ihrer Love & Peace-Botschaft die finalen kommerziellen Weihen: Andrew Lloyd Webber feiert rauschende Erfolge mit seinem Musical "Jesus Christ Superstar".

Just diesen Zeitpunkt sucht sich das damalige Enfant terrible der örtlichen Schauspielwelt aus, um sein lange gehegtes Projekt zu präsentieren: eine persönliche Interpretation des Neuen Testamentes, vorgetragen auf einer Bühne ohne Kulissen; ein Monolog, ein Parforceritt, einsam im Scheinwerferkegel - und radikal im Anspruch.
Klaus Kinski. Ausgerechnet im Blumenhemd.
Er, der in einem seiner Western Handgranaten warf, im Takt zu den Worten "Im Namen des Vaters ... und des Sohnes ..."; einer der besten Darsteller, die Deutschland je hervorgebracht hat; ein manischer Exzentriker, ein Provokateur, berühmt für seine grandiosen Rollen - etwa unter der Regie von Werner Herzog -, und berüchtigt für seine unkontrollierten Wutanfälle.
Als er am 12. November jenes Jahres die Bühne der Berliner Deutschlandhalle betritt, kann er seitens der etwa 5000 Besucher nicht nur Zuspruch erwarten. Er weiß aber in dem Moment vermutlich nicht, daß sich eine große Gruppe bloß eingefunden hat, um die Aufführung zu sabotieren: "linke" Bürgersprößlinge, die ihre Parolen zum besten geben wollen (wie es in Uni-Hörsälen damals gerade modern ist). Als Rechtfertigung genügt ihnen vorab die eigenwillige Schlußfolgerung, Kinski hätte mit seinen Filmen zuviel Geld verdient, um über einen "Arbeiter" wie Jesus sprechen zu dürfen.

Schon nach wenigen Sekunden sind die ersten Zwischenrufe zu hören: der Mob schreit sich warm. Kinski bleibt konzentriert. Eine Zeitlang sieht es so aus, als würde die ungeheure Intensität seines Vortrages auch die Störenfriede in Bann schlagen. Allein, gegen Dummheit kämpfen bekanntlich selbst Götter vergebens. Nach fünf Minuten wird ihm unter Gelächter der Mikrophonständer weggerissen; bald darauf unterbricht er die Aufführung erstmals.
Doch Kinski ist kein hilfloser Universitätsprofessor. Er stellt sich dem außer Rand und Band geratenden Pöbel, beginnt von neuem; er antwortet auf die gegrölten Phrasen, indem er die Modulation seines Textes anpaßt, er schlägt zurück mit all der fulminanten Ausdruckskraft, welche ihm zu Gebote steht.
Das sind die Szenen, die einem Gänsehaut über den Rücken jagen. Wenn Jesus' Konfrontation mit dem höhnenden Volke plötzlich aberwitzige Realität erlangt, wenn die Randalierenden dem Darsteller unfreiwillig in die Hände arbeiten; wenn sie sich als leibhaftige "Steinewerfer" entlarven, die dem lodernden Zorn des einsamen Verkünders nicht zu begegnen wissen.
Der hier spricht ist nicht der barmherzige Erlöser, der duldsam die andere Wange hinhält. Es ist der Revoluzzer, der die Erde brennen sehen will, der den Geldwechslern die Tische umschmeißt und die Händler persönlich zum Tempel hinausprügelt.

Es folgen noch mehrfache Unterbrechungen. "Kin-ski ist / ein Fa-schist" wird skandiert; es gibt Tumulte, partielle Saalräumungen ... Nach all den Eskalationen repetiert Kinski zum Schluß seinen Vortrag: im Zuschauerraum, bei miserabler Akustik, inmitten des verbliebenen Publikums. Es dauert bis zwei Uhr früh.
In seiner Autobiographie schreibt er später: "Dieses Gesindel ist noch beschissener als die Pharisäer. Die haben Jesus wenigstens ausreden lassen, bevor sie ihn angenagelt haben."

Die DVD bietet außer den knapp eineinhalb Stunden dieses legendären Auftrittes (aus 135 Minuten Rohschnitt montiert) nur wenig Bonusmaterial. Doch das genügt. Es ist ein mitreißendes Dokument über den Kampf gegen selbstgefällige Borniertheit, den zu führen wohl nur Verrückte wie Klaus Kinski ernsthaft Willens sind.
Exemplarisch steht dafür jener Moment, als er noch vor dem ersten Abbruch einen der Krakeeler zu sich auf die Bühne zitiert: "Komm du jetzt hierher, der so ein großes Maul hat. Komm hierher."
Ein Schnauzbart mit Strickpullover erscheint, die Linke verschämt in der Hosentasche, und ringt sich mit eingezogenen Schultern ein paar Sätze ab - Inhalt: "Christus hätte nicht gesagt 'Halt deine Schnauze'" -, ehe er hastig das Mikrophon zurückgibt.
Darauf Kinski, brüllend:
"Nein, er hat nicht gesagt halt-die-Schnauze! Er hat eine Peitsche genommen ... und hat ihm in die Fresse gehauen ... Das hat er gemacht!! DU DUMME SAU!!!"

Schöner kann man es nicht formulieren.
Solch ein Jesus könnte einem den Glauben fast sympathisch machen.

Marcus Stöger

Klaus Kinski - Jesus Christus Erlöser

ØØØØØ

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Universal (D 1971)

DVD Region 2
84 Min. + Zusatzmaterial, dt. OF

Regie: Peter Geyer

Links:

Kommentare_

Historische Armee Fraktion - 02.03.2010 : 12.40
Lieber Herr Stöger! Meinen Sie etwa die Frankfurter Kaufhausbrände von 1968? Und können Sie mir sagen, wo Sie die Information herhaben, daß dabei jemand gestorben ist?
T. - 02.03.2010 : 16.46
Gemeint ist der Kaufhausbrand in Brüssel im "A l’Innovation". Das war schon "etwas" größer.
Historische Armee Fraktion - 02.03.2010 : 18.34
Aber damit hatte doch die RAF nichts zu tun ...
T. - 02.03.2010 : 22.18
Die Aktion war aber ein "Wegweiser" für spätere RAF-Mitglieder.
Und der Terrorismus dieser Zeit war ja auch kein exklusiv deutsches Phänomen.

Da muss man nix beschönigen.
Marcus Stöger - 02.03.2010 : 22.57
Der Einwand ist korrekt. Ich bezog mich auf Brüssel (1967), und hätte daher "vier Jahre zuvor" schreiben müssen. Richtigstellung: bei den Brandstiftungen in Frankfurt (1968) kam niemand ums Leben. Ersterer Vorfall wurde zwar seitens der "Kommune I" akklamiert, Mitglieder der späteren RAF scheinen jedoch nicht beteiligt gewesen sein; ebensowenig konnte dabei bislang Fremdverschulden juristisch nachgewiesen werden. Das ändert zwar nichts an der mörderischen Geisteshaltung damaliger Freizeitrevoluzzer; dennoch hätte ich hier sorgfältiger formulieren sollen.
John Steed - 08.03.2010 : 16.19
Himmel, geht's hier um Kaufhausbrände ... oder um Klaus Kinski? Das es aber auch immer Leute geben muss, die ihren langweiligen Senf dazugeben müssen. Top-Rezension! Und es ist alles gesagt, was gesagt werden muss ... zur DVD!
Historische Armee Fraktion - 09.03.2010 : 09.09
@ John Steed: Du Depperl! Es geht um Fakten. Und wenn die Fakten nicht stimmen, kann auch der Rest falsch sein. So einfach ist das. Setzen.
Marcus Stöger - 15.03.2010 : 19.54
Sehr geehrter Herr Steed,
ich danke Ihnen. Und grüßen Sie Emma von mir!
Störk - 22.04.2010 : 16.39
Wenn man auch leicht glauben will, dass Kinski mit dem Skript zu Jesus Christus Erlöser nur seinen wahnsinnigen Rezitationen fröhnt, provozieren will - in den Worten zum Neuen Testament steht gewaltig mehr als nur ein ausufernder Egomanismus. Nietzsche meinte sinngemäß (glaube Götzendämmerung): Hätte Jesus nur länger gelebt, hätte er die Züge des "Löwen" abgelegt und wäre zum "Kind" (Also sprach Zarathustra) geworden, hätte er nichts anderes als eine Wille-zur-Macht-Lehre ebenso erkannt (und beides wiederspricht sich als Philosophie viel unwesentlicher als es den Anschein hat). Kinski tut für mein Verständnis in seinem Skript nichts anderes, als diesen Gedanken über Jesus zuende zu bringen. Drüberhinaus zieht sich Ähnliches auch durch Kinskis gesamtwerk, Fieber - Tagebuch eines Aussätzigen. (K müsste übrigens Nietzsche gelesen haben, weil er verschiedene frühe Gedichte von ihm rezitiert hat)
Marcus Stöger - 23.04.2010 : 00.38
Sehr geehrter Herr Störk,
es liegt mir fern, Kinskis oder gar Jesus' Psyche verstehen zu wollen. Letzterer war vermutlich bloß einer von vielen Unzufriedenen, die damals gegen die Besatzung revoltierten; seine vita wurde hernach bis zur Unkenntlichkeit überhöht und instrumentalisiert - ob zum Guten oder Schlechten, sei dahingestellt. Was bleibt, ist ein ideologisches Konzept, das beachtliche Auswirkungen auf die Weltgeschichte hat und daher stets aufs Neue erörtert wird. Klaus Kinskis Interpretation war nur konsequent. Nietzsche hin oder her: ich bin durchaus Ihrer Ansicht, daß Kinski - so "verrückt" er auch gewesen sein mag - sehr wohl hinter der Aussage seines Vortrages stand.
Mit freundlichen Grüßen
Marcus Stöger

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