Video_Cry Wolf

Wer fürchtet sich vorm bösen Wolf?

Jeff Wadlows Serienmörderstreifen taumelt zwischen halbgarem Teenie-Slasher und originellem Psychothriller dahin - und stellt sich mit Jon Bon Jovi selbst ein Bein.    24.08.2006

Um der schier unglaublichen Langeweile eines Elite-Internats zu entgehen, kreieren die angeödeten Schüler ein morbides Spiel, das durch einen realen Mord auf dem Campus inspiriert wurde. Die jugendlichen Dummköpfe vertreiben sich die Zeit damit, einen Serienmörder zu designen, der angeblich an ihrer Schule sein Unwesen treibt - und die grausamen Stories über die Untaten des Killers via Internet zu verbreiten.

Da ereignet sich plötzlich etwas, was keinen Menschen überrascht (weil man die Idee bereits aus Hunderten Krimis und Gruselschockern kennt): Die beschriebenen morbiden Phantasien werden blutige Wahrheit - und die Mitglieder der Clique à la "Zehn kleine Afrikanerlein" eines nach dem anderen ermordet. Die Überlebenden brauchen jetzt ganz dringend jemanden zum Händchenhalten und wenden sich zu diesem Behufe an die zuerst verschmähte Polizei. Doch die hält es mit dem alten Sprichwort "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht" (im Amerikanischen gibt es dazu eine Story vom „boy who cried wolf", von der auch der Titel des Streifens herührt) und lacht über die absurde Geschichte vom fleischgewordenen Phantasiemörder.

Ja, ja ... schuld an dem ganzen Jammer ist die moderne Kommunikation, die es verantwortungslosen jungen Leuten erlaubt, anonym jeden Schwachsinn zu verbreiten. Das Gesindel braucht sich nur ins Internet zu schleichen, dort Gerüchte zu fabrizieren und die dann mit einem Klick in die Welt hinauszuschicken. Und wenn der Unfug einmal an den Falschen gelangt, kann er tödliche Folgen haben.

So sehr man den Protagonisten von "Cry Wolf" ihr häßliches Schicksal auch vergönnen mag - einen Film, der sich über weite Strecken mit einer derart abgehalfterten Moral (Motto: Lügen haben abgehackte Beine) aufhält, muß man wirklich nicht gesehen haben. Erst im letzten Drittel stehen statt blutleeren Wortgefechten endlich ein paar Schock- und Gore-Effekte auf dem Programm, mit denen die Macher eindeutig den übermächtigen Vorbildern "Scream", "Tödliche Gerüchte" und dem allseits beliebten "Eiskalte Engel" hofieren.

Unter der Regie von Jeff Wadlow sind hier wenig famose Namen und vage bekannte Gesichter zu sehen, die man auch gleich wieder vergißt. Nur Jon Bon Jovi sticht ein wenig heraus - aber das auch nur, weil man den seit gut 20 Jahren nicht einmal mehr auf MTV sehen will. Die Charakterzeichnung ist schwach, versucht sich vergebens an obige Vorbilder anzulehnen und fällt dabei auf die Nase. Und Sarah Michelle Gellar läßt schön grüßen ...

Aber dann, als schon keiner mehr damit gerechnet hat, passiert auf einmal etwas, was im wirklichen Leben auch manchmal passiert (und bei M. Night Shyamalan schon lange nicht mehr): Ein überraschendes Ende reißt einen aus dem Dämmerschlaf und macht den wenig originellen Mittelteil wett. Aus einem Teenie-Slasher, bei dem das Slashing ewig auf sich warten läßt, wird ein perfider Psychothriller, ein subtiles Intrigenspiel, das den Vergleich mit anderen Clou-Filmen nicht zu scheuen braucht. Schade nur, daß man davon in der ersten Hälfte des Filmes so wenig gesehen hat.

Nina Munk

Cry Wolf

ØØ 1/2


e-m-s (USA 2005)

DVD Region 2

87 Min. + Zusatzmaterial, dt. Fassung oder engl. OF (DTS/DD5.1), wahlweise mit UT

Features: Making of, Filmographien

Regie: Jeff Wadlow

Darsteller: Lindy Booth, Julian Morris, Jon Bon Jovi u. a.

 

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