Video_A Snake of June
Voyeure wie wir
Die zerbrechliche Rinko hat Geheimnisse, der Erpresser die Photos davon. Sexuelle Befreiungstrips in der kaltblauen Hölle großstädtischer Wasserfluten, verfilmt vom großen Tsukamoto.
25.10.2004
Ja, das gibt es auch Japan: Beziehungen, in denen es nicht mehr so recht prickelt. So wie beim lahmarschigen, alten Shigehiko und seiner jungen, blassen Frau Rinko. Wenn der unsympathische Durchschnittsjapaner einmal nicht manisch die Wohnung schrubbt und Abflüsse säubert, arbeitet er in einem anonymen Job und dort natürlich viel zuviel. Die vernachlässigte Ehefrau versüßt sich ihren Alltag derweil als Beraterin an einem Sorgentelefon für Krebskranke. Nachts flieht der Gatte aus dem Ehebett, denn er hat Angst vor Gerüchen und überhaupt allem Lebenden. Wie dem Hamster im Laufrad fehlt es dem Paar an nichts. Nur Intimität findet nicht statt.
Es ist Juni, Regenzeit in Japan. Da flattert der prüden Rinko ein Umschlag mit Photos ins Haus: "Geheimnisse vor Deinem Mann". Es ist schwül. Die Photos zeigen Rinko. In sexueller Ekstase. Bei einsamer Selbstbefriedigung. Es gießt in Strömen. Schon klingelt das Telefon. Wie erwartet: der Erpresser. Doch der Photograph der Masturbations-Motive will kein Geld. Er will sich bedanken. Rinko hatte ihn kurz zuvor am Sorgentelefon, da wollte er noch Selbstmord begehen; und sie hatte ihm geraten, doch einfach einmal seine Wünsche auszuleben. Das tut er jetzt. Indem er Rinko zu ihrem Glück zwingt. Ihr hilft, zu tun, "was sie von Herzen gerne tun will". Zum Beispiel im Minirock ohne Unterwäsche in die Stadt gehen. Um einen Vibrator zu kaufen. Etc.
Ginge es um einen US-Streifen, wäre jetzt wohl der Zeitpunkt, den Film als verregneten Suspense-Softporno abzuhaken. Tun Sie das nicht - denn "A Snake of June" benutzt diese paar Krümel einer Story nur als Vorwand für ein in Maßen erotisches, doch über alle Maßen schön photographiertes Filmgedicht über geheime sexuelle Phantasien und über Voyeurismus. Durchgehend in kaltem Graublau gehalten, zeigen die Bilder die bizarre Befreiung eines Spießer-Ehepaars aus seinem selbstgewählten Gefängnis. Das geht nicht ohne Tränen, und so ist jede Einstellung in Wasser getaucht: Es schüttet ununterbrochen, die ganze Stadt scheint in die Kanalisation zu gurgeln, selbst heimische Abflüsse glucksen, Rinko badet, duscht und schwitzt, Shigehiko weint, der Erpresser trinkt, und auch die Tonspur plätschert immerzu.
Regisseur Shinja Tsukamoto kennt man seit 1988 vor allem als Autor von "Tetsuo - Iron Man", einem in jeder Hinsicht schwerverdaulichen Meilenstein des Mensch-Maschine-Monster-Kunstfilms (unbedingt sehenswert!). In "A Snake of June" liefern sich Fleisch und Gerät nur noch auf Nebenschauplätzen wie Handys, Vibratoren oder Elektroschockern kleine Schlachten. Im Vordergrund steht der Voyeur: Tsukamoto erledigte nicht nur Regie, Buch und Schnitt, er führte auch selbst die Kamera und spielt zugleich im Film den erpresserischen Photographen. Sein Objektiv klebt derart nah an Gegenständen, Gesichtern und Körpern, daß man das Wasser förmlich auf der Haut spürt. So balanciert sein Film geschickt zwischen Kunst und Kommerz und liefert trotz eher schmalem Drehbuch kurzweilige bis fiebrige Unterhaltung mit kitschfreiem Happy-End.
Andreas Winterer
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