Stories_Rokko´s Adventures im EVOLVER #55

Literarische Phantasmagorien und das Herauf- beschwören der Geister

Team Rokko schreckt wie immer vor nichts zurück und heftet sich an die Fersen einer viel zu wenig beachteten Genre-Figur. Ein Briefwechsel zwischen Doktor Nachtstrom und Melchior v.·. Wahnstein über den Werdegang des "Occult Detective".    16.09.2013

Rokko´s Adventures ist - so steht es im Impressum - eine "unabhängige, überparteiliche sowie übermenschliche Publikation" und "setzt sich mit Leben, Kunst, Musik und Literatur auseinander". Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) in regelmäßigen Abständen ausgewählte Beiträge.

 

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Wenn es darum geht, ein verlorenes Dokument wiederzufinden, einem untreuen Ehemann nachzuspüren oder generell ein wichtiges Geheimnis zu ergründen, engagiert man einen Detektiv. Was aber kaum jemand weiß: Für übernatürliche Belange gibt es eine ebenso hilfreiche Profession. Nein, ich spreche hier nicht über das sogenannte "Medium”, den "Geisterjäger” oder den "Teufelsaustreiber”. Ich spreche vom klugen, mutigen, edlen, tapferen, geschickten, unbeirrbaren und überhaupt blitzgescheiten Occult Detective.

 

Ganz recht, ich nenne diesen Namen nicht in deutscher Sprache - zu dieser ehrbaren Kunst gibt es im hiesigen Sprachraum nämlich keine zufriedenstellende Übersetzung; "Detektiv, der paranormale Vorkommnisse untersucht" ist zu lang, und damit wären wir der Einfachheit halber wieder beim "Geisterjäger", der dem Psychic Detective - so nennt man ihn auch - aber keinesfalls das Wasser reichen kann.

Stellen Sie sich vor, Sherlock Holmes hätte die Existenz des Übernatürlichen anerkannt (was er in Wahrheit natürlich niemals getan hätte); ja, der hätte einen würdigen Vertreter dieser wenig bekannten Zunft abgegeben! Mit seiner Lupe hätte er Spuren poltergeistiger Aktivität untersucht, aber auch mutigerweise im verspukten Herrenhaus übernachtet und mit intellektueller Tatkraft den Geist oder die Gespenster zur Strecke gebracht.

Das literarische Genre der "Occult Detective Fiction” stellt einen eher marginalen Anteil der Horror- und Mystery-Romane, -Novellen und -Geschichten der vergangenen 200 Jahre dar. Man muß man so richtig danach suchen - am besten in alten Bibliotheken, vergilbten Folianten, längst ver- und abgegriffenen Schmökern oder verstaubten Exemplaren vergessener Autoren.

Da muß man sich ausführlich mit legendären Schriftstellern wie Sheridan Le Fanu, Algernon Blackwood und William Hope Hodgson beschäftigen; muß von kaum mehr aufzutreibenden Spuren im Werk von Robert E. Howard oder Sax Romer gehört haben; muß wissen, daß vor Jahrzehnten populäre Namen wie Dion Fortune oder Aleister Crowley ebenfalls das Genre der okkulten Story bedienten. Überhaupt scheinen die Ahnväter und -mütter der Occult Detectives gerne selbst mit dem "Übernatürlichen” in irgendeiner Weise verbunden gewesen zu sein.

Angesichts dieser Erfordernisse war es für meine Recherchen zu diesem Artikel eine ganz klare Prämisse, mir kundige Hilfe zu holen bei einem jener allerletzten Vertreter des literarischen Mysteriums in dieser prosaischen Zeit, die die Lust am "Geheimnis” radikal auszumerzen versucht. In den düsteren Wäldern der Obersteiermark, auf einem versteckt gelegenen Landsitz (genaue Adresse unbekannt) residiert ein Autor mit dem Namen Melchior v.·. Wahnstein, mit dem ich schon einige Male zu tun hatte: Wahnstein ist Autor der Heftreihe "OMEN”, die im eher mysteriösen (sic!) > grotesque-Verlag erscheint, und ein Experte auf dem Gebiet der Magie, da er selbst (soweit ich in Erfahrung bringen konnte) möglicherweise als Großmeister eines Kults oder Ordens magische Rituale abhält.

Mir wurde zugetragen, daß Wahnstein eine große, erlesene Bibliothek zum Thema "Occult Fiction” besitzen solle, und so wandte ich mich an den zurückgezogenen Schriftsteller. Leider gelang mir (wie schon in der Vergangenheit) kein persönliches Treffen, dafür konnte ich Wahnstein aber zu einem ausführlichen Briefwechsel überreden, der im folgenden hier abgedruckt wird und als Einführung in die Welt des Occult Detective dienen soll.

 

***

 

Sehr verehrter Herr v.·. Wahnstein,

 

Ihr Sekretär hat mir mitgeteilt, daß Sie einem Treffen leider weiterhin ablehnend gegenüberstünden; ich darf für die Zukunft weiterhin auf ein solches hoffen und Sie im vorliegenden Falle höflichst bitten - wie bereits mit Ihrem Büro in Graz besprochen –, mir bei einer literarischen Recherche zu Diensten zu sein.

Ich zögere nicht, Ihnen diese kurz zu umreißen: Ich recherchiere für das Magazin "Rokko´s Adventures" (in dem bereits einmal ein Interview mit Ihnen zum Thema "Eismagie-Kriege" abgedruckt war, Sie erinnern sich) zu dem leider viel zu wenig bekannten und inzwischen vermutlich großteils vergessenen Literatur-Subgenre des "Occult Detective” und habe von unserem gemeinsamen Bekannten R. kürzlich vernommen, Sie seien Besitzer einer fast vollständigen Bibliothek zum Thema.

Ich möchte Sie ersuchen, mir Informationen aus Ihrem Erfahrungsschatz zukommen zu lassen. Möglicherweise verspüren Sie auch die Neigung, mit mir in einen ausführlicheren Austausch auf postalischem Wege zu treten; deswegen möchte ich Ihnen gleich eine Einstiegsfrage stellen: Auf wann würden Sie das Erscheinen des ersten "Occult Detective" in der einschlägigen Schauerliteratur datieren? Ich habe Kenntnis von Sheridan Le Fanus Dr. Martin Hesselius, weiß aber nicht, ob diese Informationen korrekt sind...

 

Mit herzlichem Gruß der Ihre,

 

Dr. Nachtstrom

 

***

 

Sehr geehrter Herr Dr. Nachtstrom,

 

es freut mich, wieder von Ihnen zu hören, und ich schätze Ihren Entschluß, meinem Wunsch nach Zurückgezogenheit entgegenzukommen. Es ist mir aber durchaus angenehm, einen entsprechenden Briefwechsel zu führen, insbesondere zu einer Thematik, die meine speziellen Interessen mehr als nur berührt.

Die literarische Figur des Detektivs entscheidend geprägt zu haben, wird ja gemeinhin und völlig zu Recht Edgar Allan Poe zugeschrieben. Hätte er dies nur mit seinen phantastischen Geschichten kombiniert, der Welt wäre wohl ein Occult Detective von heute noch überragender Bedeutung beschert worden! So erscheint er aber erst tatsächlich im Jahre 1872 mit, wie Sie richtig schreiben, Dr. Martin Hesselius, einer Schöpfung des Iren Joseph Thomas Sheridan Le Fanu in dessen Kompilation In a Glass Darkly. Darin sind fünf Kurzgeschichten versammelt, dem Stil des damals beliebten Gothic Horror verpflichtet, die Le Fanu dem Leser als Auswahl der posthumen Schriften eines deutschen Arztes präsentiert - eben des weitgereisten, welterfahrenen und mit immensem Wissen bedachten Martin Hesselius.

Die letzte Erzählung dieser Sammlung sollte sich als die weitaus einflußreichste herausstellen. Darin werden Hesselius´ furchteinflößende Erlebnisse in der Steiermark mit einer lesbischen Vampirin namens Carmilla beschrieben – so auch der Titel der Geschichte, die eine nicht zu unterschätzende Rolle als Inspirationsquelle für Bram Stokers Dracula von 1897 spielte.

Stoker, dem auch eine Mitgliedschaft im berühmten Hermetic Order of the Golden Dawn nachgesagt wird, wollte seinen Vampir ursprünglich ebenfalls in der Steiermark ansiedeln, verlegte die Handlung dann jedoch früh in der Konzeption nach Transsilvanien. Der Nachname seines berühmten Vampirjägers Professor Abraham van Helsing ist zumindest klanglich Le Fanus Hesselius geschuldet (das "van" dürfte auf den Leibarzt Maria Theresias - Gerard van Swieten - zurückgehen, der sich im Kampf gegen die grassierende Angst vor Vampiren, vor allem in Südosteuropa, verdient gemacht hatte).

Im Unterschied zu Hesselius greift van Helsing selbst beherzt und tapfer in die Handlung ein und ist bis heute der weltweit bekannteste unter den Occult Detectives. Der überwältigende Erfolg von Dracula legte beim lesehungrigen Publikum auch sicherlich den Grundstock für das Erscheinen weiterer übersinnlicher Spezialisten. Darüber hinaus darf man auch nicht vergessen, daß die meisten ihrer Autoren Mitglieder in magischen Orden waren, was ihnen Einblicke in tatsächliche okkulte Zusammenhänge ermöglichte. Doch darüber ein anderes Mal.

 

Bis dahin verbleibe ich

mit besten Grüßen,

Melchior v.·. Wahnstein

 

***

 

Zur Fortsetzung.

Rokko’s Adventures

aus: Rokko´s Adventures #12

(erschienen im Dezember 2012)


 

Text: Dr. Nachtstrom

Illustration: van Deigo

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