der jüdische Friedhof in St. Pölten
(Photos © Manfred Wieninger)
Anstatt uns wie bisher quer durch die Weltgeschichte zu führen, besucht Manfred Wieninger diesmal einen Friedhof. Dort verbergen sich naturgemäß einige Geschichten. Über manche berichtet der Obergärtner, andere erzählen die Gräber selbst. 01.11.2008
Die Krähen, erzählt der Obergärtner, stehlen immer wieder Grablichter und tragen die roten Plastikbecher dann in ihren kräftigen Schnäbeln einige Meter in die Lüfte, um sie gleich darauf auf eine steinerne Grabplatte oder einen asphaltierten Weg fallen zu lassen. Das Plastik zerspringt in der Regel und gibt die Wachskerze frei. Wachs ist aber nichts anderes als Fett, und Fett ist Nahrung. Ein paar besonders gewiefte Krähenvögel haben sogar gelernt, die Verschlüsse der Grablaternen zu öffnen, und stibitzen ihre Wachsmahlzeit dort heraus. Immer wieder, erzählt der Gärtner, kommen Grabbesitzer zu ihm, um sich über zunehmenden Vandalismus zu beschweren. Wenn er sie dann auf die Krähen hinweist, glauben sie ihm nicht. Bestenfalls fordern sie deren Vernichtung mittels Giftköder, aber das will sich der Gärtner nicht antun. Erstens bräuchte er dazu einen Gemeinderatsbeschluß, zweitens ein Budget und drittens wäre damit, wenn überhaupt, wohl nur ein einziger "Krah", wie die Vögel im lokalen Dialekt heißen, zu töten, die ganze Schar insgesamt wäre sicherlich zu schlau, um zweimal auf denselben Köder hereinzufallen. Und viertens dürfte es sich um die seltenen russischen Saatkrähen handeln, die sowieso unter Artenschutz stehen. Vor allem aber und fünftens passen diese Tiere einfach auf einen Totenacker - vielleicht besser als so manche Besucher, die schon mal Schokoriegel kauend beten, Abfälle auf fremden Gräbern drapieren und ungeniert Fahrräder auf dem Friedhofsgelände benützen.
Auf dem Friedhofsteil, den ich suche, gibt es keine Grablichter und keine Besucher, weder artige noch unartige. Auf der großen Orientierungstafel am Haupteingang ist er nur als weißer, exterritorialer Fleck inmitten des weitläufigen Areals des mit über 12.000 Gräbern größten Friedhofs Niederösterreichs eingezeichnet. Hier findet man keinen frisch polierten Granit, keine liebevoll gehegten Rabatte, hier glänzen keine fein geschliffenen Porphyr-Oberflächen mehr, hier regieren die Moose und die Flechten, der Efeu und das Gebüsch, die Gräser und die Stauden, und Stein um Stein wird langsam, unendlich langsam wieder zu Kalk und Sand und Korn.
Ein Teil der Grabsteine hier hat längst das Gleichgewicht verloren und ist umgestürzt, seltsamerweise alle nach vorne. Auf denen, die noch stehen, kann man beispielsweise lesen:
Hier ruhen
unsere unvergeßlichen geliebten Eltern
Herr KARL SÜSS
geb. 16. VIII. 1855, gest. 16. XII. 1929
Frau JOHANNA SÜSS
geb. 19. IV. 1859, gest. 20. IV. 1930
Wie sie in 50jähriger Ehe durch Liebe, Treue und Fürsorge um ihre Kinder vereint waren, so vereinte sie auch Gottes Ratschluß im Tode.
Die tieftrauernden Kinder
Oder:
Hier ruht
unser unvergeßlicher guter Gatte und Vater
MORITZ REISS
geb. am 13. Februar 1868
gest. am 19. April 1915
tief betrauert von seiner Gattin und seinen Kindern
Dieser Ehefrau aber war es nicht mehr vergönnt, neben ihrem Mann in Ewigkeit ruhen zu können. Gleich darunter findet man die Inschrift:
Zum Gedenken an
Gattin EMMA
gest. 1945 im 64. Lebensj.
in Shanghai, China
Was, denke ich, gibt es für einen St. Pöltner Schlimmeres, als in Shanghai sterben zu müssen? Aber es gab Schlimmeres, weit Schlimmeres. Auf dem übernächsten Grabstein finden sich die Worte:
Unsere Mutter
KLARA KÖRNER
Unsere Schwester
GUSTI KÖRNER
Umgekommen in Theresienstadt
Und wieder ein paar Schritte weiter, am Sockel eines weiteren alten Steines, schließlich die Inschrift:
Zum Gedenken an
Therese Spitz
geb. Blum
Familien Herlinger
und Zweig
aus Wilhelmsburg
Alle 1941/42 deportiert
Die Kälte beißt in meine Knochen, und es ist nicht nur der trockene, unbarmherzige Wind, der die Haut meines Gesichts spannt. Mit meinen Halbschuhen versinke ich in dicken Schichten alten Grases, in Laub vom letzten Herbst und Laub vom Vorvorjahr. Der grobkristalline, harte Schnee, der all das dünn bedeckt und unter meinen Schritten birst, scheuert an meinen Knöcheln, während ich lesend von Grabstein zu Grabstein gehe. Einige haben das hexenfingrige Friedhofsgebüsch, der Efeu und der Wacholder schon so umschlungen, daß kaum oder nichts mehr auf ihnen zu entziffern ist. Zweimal zwei Manntage pro Jahr wird hier, hat mir der Obergärtner erzählt, der Vegetation zu Leibe gerückt. Aus Gefälligkeit. Denn die Wiener Kultusgemeinde hat 26 Friedhöfe in Niederösterreich zu erhalten, die Gemeinde ist überaltert, trägt schwer unter den finanziellen Lasten der Versorgung ihrer Mitglieder im Alter und könnte sich kommerzielle Gärtnerdienste für all diese Totenäcker, auf denen die letzten Toten in den dreißiger Jahren beerdigt worden sind, längst nicht mehr leisten. Zweimal zwei Manntage auch heuer: Wenn man an einem Ende fertig ist, ist das andere Ende beinahe schon wieder zugewachsen.
Auch ein Reserveareal hatte der Chewara Kadischa irgendwann vor 1938 erworben, noch einmal 3000 Quadratmeter zusätzlich zur 1895 angelegten und heute noch vorhandenen Gräberfläche. Durch eine verkrüppelte Hecke ist es nun vom Gräberfeld getrennt und dicht mit hohen, alten Grasbüscheln bewachsen. Wie hellgelbes Stroh ragen die Halme aus der dünnen Schneedecke. Hier wird nie wieder jemand begraben werden, die jüdische Gemeinde von St. Pölten ist ausgelöscht durch Mörderhand. Nur die Krähen, wie man an zahlreichen Spuren ihrer seltsamen dreizackigen Füße sieht, treiben sich hier herum und bohren Löcher in die Grasstöcke, in die fette, gefrorene Erde und spielen die Spielchen ihrer komplizierten sozialen Ordnung.
Gegen die Landstraße nach Karlstetten zu ist der Totenacker eingefriedet von einer massiven, übermannshohen Betonwand, aus der Kalk sintert. Wild aufgegangene Busch- und Baumgruppen saugen das Mineral gierig auf. Der Boden dieses uneinsehbaren Ecks wurde aber noch von etwas ganz anderem gedüngt; längs des Betonzauns zog sich vor wer weiß wie vielen Jahren ein vielleicht zwanzig Meter langer und drei Meter breiter Graben, der mit den Leichen von ermordeten Juden und ein bißchen Erde aufgefüllt wurde. Darüber ein längst zersprungener, dünner Deckel aus Magerbeton. Vielleicht ahnen die Krähen, kommt mir ein schwarzer Gedanke, was sich unter der dünnen Schneedecke verbirgt, gerade auf dem Massengrab sind ihre Spuren besonders zahlreich. Ein schlichter Betonquader mit einer Gedenktafel aus schwarzem Granit reckt seine Inschrift in die kalte, trockene Luft: "Hier ruhen die sterblichen Überreste von 223 israelitischen Märtyrern des Jahres 1945". Praktisch kaum ein St. Pöltner kennt diese Grabanlage im abgeschiedensten Teil eines exterritorialen Friedhofs, es ist vielleicht das unbekannteste Massengrab der Republik. Später werde ich in der Friedhofsverwaltung bestätigt bekommen, daß man auch dort praktisch nichts über diese 223 Ermordeten weiß. Ihre Vernichtung, denke ich, war nicht nur physisch total, sie sind auch noch namenlos und weitgehend vergessen.
Nicht in dem kalten, schneebedeckten Massengrab, auf dem die Krähen tanzen, liegt Elfriede Frischmann aus der St. Pöltner Franziskanergasse. Das einzige, was von ihr noch existiert, ist ein Bildchen. Es zeigt ein vielleicht vier-, fünfjähriges, etwas pummeliges Mädchen in einem über und über geblümten, ärmellosen Kleidchen mit einer für den Termin beim Photographen von der Mama sorgfältig gelegten Frisur. Wasserhelle Augen in einem traurig-ungewissen Gesichtchen. Am 26. Jänner 1942 wurde die damals Achtjährige nach Riga deportiert und dort bald nach ihrer Ankunft bestialisch ermordet.
Vielleicht sollte man gelegentlich an die kleine Elfi denken. Vielleicht hilft das, zum Beispiel, wenn man sich selbst wieder einmal zu wichtig nimmt ...
der jüdische Friedhof in St. Pölten
(Photos © Manfred Wieninger)
Ich habe Maschinenbau studiert und bin auf all das hier nicht angewiesen. Schließlich habe ich im Gegensatz zu Ihnen etwas Vernünftiges gelernt. Außerdem bin ich voll und ganz davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben ...
Das Schlimmste ist, daß sie den Kopf zu mir drehen und mich anzusehen versuchen, während ich sie über den Haufen fahre. Sie ziehen nur den Kopf ein wenig ein und schauen mich irgendwie traurig an ...
Am 4. Dezember 2000 verstarb Hans Carl Artmann, einer der größten Literaten Österreichs. Anläßlich des zehnten Todestages: Eine Hommage von Manfred Wieninger.
Es könnte der Titel eines modernen Romanes aus deutschsprachiger Feder sein. Doch auch anderswo werden verkrampfte Begriffe ersonnen. Beim Militär zum Beispiel.
Massaker in Hofamt Priel: Revierinspektor Winkler und eines der größten ungelösten Rätsel der österreichischen Kriminalgeschichte.
Von Manfred Wieninger
Es gibt sie noch, die legendären Wiener Cafés, mit ihren Geschichten und ihrer Vergangenheit - wenn auch manche Änderungen ein wenig eigenwillig anmuten. Manfred Wieninger hat eines davon besucht.
Kommentare_
Ein wieder einmal ausgezeichneter Bericht von Manfred Wieninger. Gerade im Bereich der jüdischen Geschichte von St. Pölten, leistet er hier immer wieder wertvolle Arbeit. Man denke nur an seinen Bericht über das Zwangsarbeitslager in der Viehofner Au. Aber auch literarisch setzt er mit seiner Krimireihe seiner Heimatstadt ein laufendes Denkmal. Danke!
Ich war vorige Woche dort. Während bereits sehr geschäftige Vorbereitungen für Allerheiligen liefen und der Friedhof gut besucht war, war unser Grüppchen am russischen Teil alleine. Und im jüdischen Teil haben wir Rehe aufgescheucht…
Ja, die jüdischen Friedhöfe in NÖ sind alle eine Reise wert. Letztes Jahr im Mai habe ich damit begonnen diese auf Dias festzuhalten. Es ist bzw. war extrem erschreckend wie verantwortungslos manche Gemeinden mit dem Erben ihrer jüd. Vergangenheit umgehen! Da ist der jüd. Friedhof von St. Pölten noch fast ein "Schmuckkästchen". Leider habe ich es noch immer nicht geschafft alle Friedhöfe zu besuchen bzw. fotografisch zu dokumentieren. Wenn ich damit fertig bin möchte ich darüber einen - oder mehrere - Vorträge halten.