V/A - West Indian Rhythm (CD-Box)
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Bear Family (D 2006)
Zehn CDs beleuchten den Karibik-Sound der Jahre 1938 bis 40 - und der klingt auch heute noch sehr munter. Manfred Prescher lauscht ergriffen dem Hohelied der Perfektion. 01.12.2006
Woher der Begriff "Calypso" oder "Caliso" bzw. "Calipso" eigentlich stammt, ist nicht geklärt. Ob er sich tatsächlich von der griechischen Nymphe Kalypso ableitet, die Odysseus sieben Jahre lang mit Liebe und Wollust "gefangenhielt", ist ungewiß. Genauso gut könnten ein gleichnamiger Saturnmond oder eine Orchideenart Pate für den Namen gestanden haben.
Sicher ist jedenfalls, daß mit "Calypso" die Karnevalsfeierlichkeiten in der Karibik, besonders auf Trinidad, gemeint sind. Das bunte Treiben weist starke Parallelen zum Mardi Gras von New Orleans auf, wo das Bevölkerungsgemisch ebenso bunt ist wie etwa in Port-of-Spain, der Hauptstadt des Inselstaates: Ehemalige Sklaven aus Schwarzafrika und Ureinwohner der West Indies trafen auf die Europäer, die den amerikanischen Doppelkontinent kolonialisierten. So findet man im karibischen Raum neben den Einflüssen der Spanier und Portugiesen, die die Region zunächst für sich vereinnahmten, vor allem die Spuren der Franzosen und Briten, die ihrer Herrschaft folgten. Trinidad gehört auch heute noch zum Commonwealth, ist aber politisch seit Mitte der 70er Jahre unabhängig. Sprache und Weltbild orientieren sich aber nach wie vor stark an den Standards aus dem Vereinigten Königreich.
Wer noch nie etwas von einem Musik- und Tanzstil namens Calypso gehört hat, kennt wahrscheinlich doch mindestens ein Lied aus dem Genre - nämlich den "Banana Boat Song", mit dem Harry Belafonte einen Welt-Hit landete. Das "Day-O" in diesem Evergreen ist seit 1956 weltweites Allgemeingut, stammt eigentlich aus Jamaika, wurde aber auch auf Trinidad schon im 19. Jahrhundert gesungen. Dieser erfolgreichste aller Calypsos trägt alles in sich, was den Stil auszeichnet. Eine extrem eingängige Melodie, die sich leicht mitsingen läßt, und ein tanzbarer, recht vertrackter Rhythmus treffen auf einen Text, der mitten aus dem Leben in der Karibik gegriffen wurde. Freilich verkommen die Worte bei Belafonte zu Märchenwelt-Klischees, aber als Einstieg in die swingende Musik aus Trinidad eignet sich der "Banana Boat Song" allemal.
Calypsos werden vorzugsweise in Englisch gesungen, allerdings gibt es auch Lieder in Spanisch oder in Französisch bzw. Patois. Weil die Songs oft derbe Texte haben und sich als Hauptnachrichtenmedium der Insulaner schon auch mal der Staatsraison entgegenstemmen, wurden sie regelmäßig zensiert oder verboten. Besonders drastisch wirkten sich die behördlichen Eingriffe in den späten 30er Jahren aus, als die Klänge auf den Inseln der Kleinen Antillen, zu denen Trinidad gehört, ihre höchste Popularität erreichten.
10 bis 15 Jahre vorher war es den Machthabern noch relativ leicht gelungen, die Verbreitung des Calypso einzudämmen, da es auf Trinidad kaum Radiogeräte, Grammophone oder Platten gab. Eine eigene Tonträgerindustrie existierte nicht, Verbreitungskanäle waren nicht angelegt. Also fand der Sound zu dieser Zeit hauptsächlich in der Gegend von New Orleans statt, wo viele Menschen aus den West Indies nach Arbeit suchten. Von dort breitete er sich über die USA aus und wurde von etablierten Künstlern wie Bing Crosby oder Morton Downey adaptiert.
Calypso war allerdings mehr als eine Modeerscheinung. Er hielt sich und wurde in den späten 40er und den 50er Jahren, als die Inseln zum beliebten Urlaubsziel der wirtschaftlich aufstrebenden Nordamerikaner wurden, endgültig zum Massenphänomen. Davon zeugen nicht nur die Hits von Harry Belafonte ("Island In The Sun", 5-CD-Box, erschienen bei Bear Family); sogar der Schauspieler und Film-noir-Star Robert Mitchum nahm sich des swingenden Karibikstils an ("That Man", CD, erschienen bei Bear Family). Von Louis Armstrong über Ella Fitzgerald bis zu den Andrew Sisters - Calypso war "in".
Es waren auch die Amerikaner, die den Calypso zurück nach Trinidad brachten. Zwei Musikkonzerne aus den Staaten sorgten in den 30ern dafür, daß die Menschen in Chaguanas, San Fernando oder Port-of-Spain die Songs kaufen und erste Touristen die klingenden Souvenirs mitnehmen konnten. Auf der einen Seite stand RCA mit den Labels RCA, Victor und Bluebird, auf der anderen Decca. Daneben gab es noch eine Handvoll Kleinunternehmen, aber im Prinzip teilten sich die beiden Konzerne den allmählich wachsenden Markt. In gewohnter Manier gelang es RCA und Decca, echte Stars zu lancieren, die sich auch auf dem "Race"-Markt in den USA behaupten konnten. Sie nannten sich Growler, Black Prince, Lord Pretender, Lord Ziegfield, Lord Invader, Lord Executor, Lord Caresser, Mighty Destroyer, King Radio, Roaring Lion, Growling Tiger oder Attila The Hun. In der Regel wurden die Namen vom Volksmund und auf den Etiketten der Schellacks einfach in Executor, Radio, Tiger oder Lion abgekürzt.
Die Bands bestanden zunächst hauptsächlich aus Gitarren und den von den Karnevalsumzügen bekannten Kalinda-Drums, doch durch den US-Einfluß erweiterte sich der Sound um Bläser. Alle Calypso-Stars wurden von Big-Bands begleitet, die den folkloristischen Stil der Steel-Drums veredelten und in ein zeitgemäß-westliches Gewand hüllten. Ähnlichkeiten zu den frühen Ska-Formationen in den Hotels von Kingston/Jamaika sind nicht zufällig, sondern das Ergebnis des gleichen Kulturimperialismus.
Eines steht fest: Dem Calypso hat die Beimengung von Swing-Elementen gut getan. Die zusätzliche Eleganz harmoniert hervorragend mit dem luftigen Rhythmus der West Indies. Die Themenvielfalt der Songs ist enorm: Neben Liebe, Lust, Leidenschaft, Bacchanalen, Tod, Verzweiflung, dem Jahrhundertkampf zwischen Max Schmeling und Joe Louis sowie Geschichten aus dem Alltag gehören kurz vor und während des Zweiten Weltkriegs Lieder gegen Hitler und seine Verbündeten dazu. Das ist kein Wunder - als Teil des British Empire stand Trinidad auf der Seite der Krone, und daran ließen auch Attila oder Tiger keinen Zweifel. Die Kritik an der Besatzungsmacht fand nur in lustigen Wortspielen statt, die der Zensurbehörde entgingen.
Außerdem gab es Lieder über Voodoo-Zauber, Magie und den Orisha-Kult sowie religiöse Spirituals in Hülle und Fülle. Eines davon schaffte es sogar ins Gesangbuch der evangelisch-lutherischen Kirche: "Kommt mit Gaben und Lobgesang" basiert auf "Let Us Talents And Tongues Employ", das viele der Stars aus Trinidad in ihrem Repertoire hatten.
Es ist erstaunlich, wie gut sich die 267 Songs auf den zehn CDs des vorliegenden Box-Sets anhören. Zwar hat Bear Family immer einen einzigartig hohen Standard im Umgang mit "altem" Repertoire, und es gelingt dem norddeutschen Label, Werke aus der Frühzeit der Musikaufzeichnung so zu restaurieren, daß sie optimal klingen, gleichzeitig aber nichts von ihrem ursprünglichen Charakter einbüßen. Frühe Aufnahmen aus Trinidad sind allerdings nicht mit den US-Produktionen aus den 30ern und 40ern zu vergleichen. Studiotechnik und Aufnahmemöglichkeiten waren in den Staaten wesentlich moderner und damit besser für heutige Digitalisierungsmaßnahmen geeignet. Umso erstaunlicher ist es, wie es dem Team von Richard Weize gelungen ist, daß diese Songs auch aus heutigen Sound-Systems so frisch klingen. Abstriche nimmt man dabei gern in Kauf, da die Calypsos nicht "totproduziert" werden sollten.
Nicht nur die technische Aufbereitung der Lieder wäre eine garantiert spannende Geschichte, auch das Aufspüren des Materials gäbe eine Extra-Story her - vor allem, wenn man die Profimethoden der Bear Family bedenkt. Bei dem Hambergener Label sucht man nicht nur die Stücke und bringt sie in einen zeitlichen Produktionskontext, man fahndet auch nach Originalphotos, Zeitungsausschnitten und Informationen zu den Künstlern und ihrem Umfeld.
Auch das dürfte sich in diesem Fall noch schwieriger gestaltet haben als beispielsweise beim Kompilieren und Editieren einer Sons-Of-The-Pioneers- oder einer Louis-Jordan-Box. "West Indian Rhythm" enthält ein dickes, 316-Seiten-Buch im Langspielplattenformat. Der schwere Wälzer bietet eine ungeheure Fülle an Bildern, Zeitdokumenten und Wissenswertem über die Sänger, Musiker, über das, was auf Trinidad geschah und wie die Insel in das Weltgeschehen eingebunden war. Das dicke Ding ist extrem gut geeignet, um es auf dem Beistelltischchen zu platzieren. Man blättert gern darin, bleibt beim Photo eines Stockkampfes oder bei einem Zeitungsausschnitt, der die abenteuerliche Odyssee von sieben Schulkindern erzählt, hängen.
Buch und CDs bilden - wie bei Bear Family üblich - eine Einheit und sind eine Anschaffung, die Lebensqualität, Allgemeinbildung und musikalischen Geschmack verbessert. Genau das bekommt man auch mit der opulenten Calypso-Schachtel, und mehr kann man nicht verlangen. Höchstens (mindestens) einen Nachschlag. Auf den warten wir geduldig, denn gut Ding will bekanntlich Weile haben. Perfekte Dinge brauchen logischerweise noch länger.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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