Warren Ellis im Web
Stories_Warren Ellis, Pt. 1
"Shit happens when you party naked"
Er zählt neben Frank Miller und Alan Moore zu den künstlerisch und erzählerisch einflußreichsten Comic-Autoren der Gegenwart. Sein kreativer Output ist dabei - gelinde ausgedrückt - epochal. Deshalb erzählen Ihnen Peter Hiess und Thomas Ballhausen "nur" etwas über die Noir-Comics des Warren Ellis. 12.06.2008
Barkeeper, die sich darüber beklagen, daß Passivrauchen ihre Gesundheit gefährdet, machen mich krank. Ihr bringt die Leute dazu, sich mit Hochprozentigem zu vergiften, mischt euch in Schlägereien ein, besauft euch selbst, wischt Kotze auf, laßt euch die Krankheiten alter Männer ins Gesicht blasen, wenn sie über die Theke nach dem nächsten Bier brüllen, werdet Tag für Tag tätlich bedroht - und da macht ihr euch Sorgen übers Passivrauchen? Ihr braucht keine neuen Gesetze, ihr braucht neue Jobs.
aus: "Things I´m sick of" (Online-Kolumne von Warren Ellis)
Reload. Gleich auf den ersten Seiten begeht eine abtrünnige Geheimagentin ein erfolgreiches Attentat auf den US-Präsidenten. Sie tötet professionell, gnadenlos und wann immer sie muß. Und als ein Mitarbeiter des Secret Service ihr endlich von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, erfährt er auch, warum: Die Mafia hat (wie sich das ja heute schon abzeichnet) die Macht im Staate übernommen, regiert nicht mehr nur Slum-Bezirke, sondern auch das Pentagon und das Weiße Haus. Aber jetzt wird aufgeräumt - und wenn´s mit dem Raketenwerfer sein muß.
Two-Step. "Mir ist so langweilig, ich könnte Blut furzen", meint Rosi Blades in ihrer ersten Dialogzeile. Rosi ist Camgirl und soll für einen der unzähligen Rund-um-die-Uhr-Reality-TV-Sender irgendwas Interessantes aufnehmen. Aber da ist nichts. Bis sie in diesem London der nahen Zukunft den Zen-Gangster Tony Ling trifft (immer in Action, immer auf der Flucht) - und der hat wiederum einen abgeschnittenen Schwanz geklaut. Am Schluß von Band zwei sagt der Chef der Bande, die den Pimmel zurückhaben will, zu seinem debil-monströsen Schläger: "Ron, ich will, daß du jemanden für mich zu Tode fickst."
Global Frequency. When the going gets tough, sind die Toughen im Sondereinsatz. Die supergeheime und wahrscheinlich von allen wichtigen Nationen finanzierte Organisation Global Frequency hat zu jeder Zeit 1001 Mitglieder (möglicherweise auch Sie?), verteilt über die ganze Welt und bestehend aus allen Berufsgruppen, vom Psychologen über den MIT-Hacker bis zum Athleten. Leiterin der Organisation ist die mysteriöse Miranda Zero, die Einsätze werden von der Superhackerin Aleph koordiniert. Und da gibt es viel zu koordinieren - vom Angriff gegen Terroristen mit Ebola-Viren bis zur Entschärfung von "Wurmloch-Bomben" aus ex-sowjetischen Beständen; all den Müll eben, der vom 20. Jahrhundert übriggeblieben ist. "You´re on the global frequency!"
Strange Killings. William Gravel heißt nicht nur so - er hat wahrscheinlich auch eine Stimme, die nach mahlendem Schotter klingt. Er war Sergeant Major bei der britischen Spezialtruppe SAS und dort solange für Black-ops zuständig, daß ihn heute keiner seiner Vorgesetzten mehr kennen will. Brauchen tun sie ihn trotzdem, weil er eine Killermaschine ist und mit schwarzmagischen Kindermördern, Zombies auf der Kannibaleninsel und anderen okkulten Schreckensgestalten umzugehen weiß. Wie? Er foltert sie und bläst ihnen die Schädeldecken weg. Nur die Verantwortlichen aus Regierungen und Konzernen bleiben leider (fast) immer ungeschoren.
This is Pulp Fiction.
Nein, nicht was Sie jetzt denken und fürchten. Keine halbgaren, postmodernen Zitatensammlungen, die von eierlosen, pseudointellektuellen Feuilletonlesern in aller Welt mit gespitzten Lippen goutiert werden. Keine "Kill Bills" und "One Upon A Time in Mexicos" und wie all der pubertäre Dreck heißt.
Stellen Sie sich stattdessen einen Quentin Tarantino vor, dem man ein Hirn implantiert hat. Einen, der sich nicht nur von fettigem Ami-Junkfood ernährt hat, sondern auch das gute alte europäische ? speziell britische ? Kulturerbe von Kindheit an in sich hineingeschlungen hat: die Abgeklärtheit, den Zynismus, den tiefschwarzen Humor, die Depression, den Blick auf den Totenschädel unter der lachenden Fernsehvisage. Kurz gesagt: ein Tarantino, der alles andere ist als ein Tarantino. Dann haben Sie Warren Ellis.
Laying open the guts of the world and sniffing the entrails, that´s what we do.
Spider Jerusalem in der Ellis-Serie "Transmetropolitan"
In der angloamerikanischen Comic-Szene ist Warren Ellis ein Star. Soll heißen: Sie haben noch nie von ihm gehört, weil sie ja keine Bildergeschichten lesen. Ihr Pech.
Dank "Global Frequency" könnte sich Ellis´ Bekanntheitsgrad aber in nächster Zeit deutlich steigern. Das amerikanische WB Network kaufte die Rechte an seiner hartgesotten-verspielten Agentenserie; die Dreharbeiten zur gleichnamigen TV-Produktion begannen im August 2004 in Vancouver. * Ein weiterer Schritt in den kreativen Expansionsplänen des Autors: Neben Comics, Drehbüchern, Computerspiel-Treatments und Filmscripts will er demnächst auch "richtige" Romane schreiben. ** Und neben alledem betreibt er noch ein Weblog ("die puny humans"), veröffentlicht Essays zur Unterhaltungskultur auf seiner und manch anderer Website und schickt an die paar tausend Empfänger seines Newsletters "bad signal" oft mehrmals täglich Ideen- und Storyfragmente, Berichte über seine Arbeit, Tagebucheintragungen und gelegentlich auch irrwitzige Auslassungen über Gott und die Welt, die er spätnachts - und entsprechend abgefüllt - aus dem Pub um die Ecke versendet.
Ellis ist ein Nachzügler der "British invasion" der Comics-Szene (angeführt von Autoren wie Neil Gaiman und Alan Moore, die die stagnierende US-Superheldeneintönigkeit auf den Kopf stellten). Zusammen mit Garth Ennis (zynische Hardcore-Brutalität in "Preacher", "Punisher" und anderen Serien) und Brian Michael Bendis (dank "Jinx", "Torso" und anderer Frühwerke einer der wichtigsten Erneuerer der amerikanischen Crime-Comics) zählt er heute zu den wichtigsten Noir-Autoren der Branche ? wobei sich bei Ellis in die Krimihandlung immer auch Popkultur-, SF-, High-Tech- und Cyberpunk-Elemente mischen.
Warren doesn´t like 'nice' things. He distrusts 'nice' people. They make him suspicious. And I know how he feels.
Garth Ennis im Vorwort zu "Transmetropolitan: Back on the Street"
Warren Ellis ist 36 Jahre alt und lebt mit Frau und Tochter im Südosten Englands. Schon als Teenager war er von Comics begeistert und begann in jungen Jahren für diverse Zeitschriften über sie zu berichten. Vom Schreiben über Comics kam er so zum Schreiben von Comics. Zu seinen Einflüssen gehören aber nicht nur die Superhelden von Marvel und DC, sondern auch klassische und moderne Vertreter des Noir-Krimis, von Raymond Chandler bis James Ellroy - wie man bereits an seinen großartigen Frühwerken "Lazarus Churchyard" und "City of Silence" erkennen kann. Später schrieb er für die Serien "X-Men" und "Batman", schuf eigene (Mini-)Serien und Helden und wird heute nicht nur von den zwei großen US-Verlagshäusern, sondern auch von den Independents so umworben, daß er es sich leisten kann, langweilige Aufträge einfach abzulehnen.
Ellis wurde von "Entertainment Weekly" zu einem der 100 kreativsten Menschen des Planeten ernannt; auch die Fachwelt zeichnete ihn bereits mehrmals aus, etwa mit dem Don Thompson Award als "Best Writer" 1998 und 1999 oder mit dem begehrten World Horror Guild Award für "Best Graphic Work". In den Comics von Warren Ellis sind zwei wesentliche Motive des Noir-Genres besonders deutlich in auszumachen: der gebrochene (Anti-)Held und die anonyme, ebenso bedrohliche wie faszinierende Großstadt, die den idealen Rahmen für die Handlung abgibt.
People say to me, where do you get your ideas from?
I get my ideas from being a bastard.
Warren Ellis
Inhaltlich ist "Comic" in Übersetzung der ursprünglichen Bedeutung als "drolliger, lustiger Streich" zu verstehen. Die ersten Comics richteten sich folglich auch in betont witziger Art an Zeitungsleser, die bei der Lektüre aber nicht auf die uns vertraute Strip-Form stießen. Vielmehr dienten Comics in Form der sogenannten Sonntagsseite zur Aufwertung der Wochenendbeilagen. Hier wurden in sich geschlossene Handlungen präsentiert, die im Zusammenhang die Realisierung eines größeren erzählerischen Rahmens erlaubten.
Formal innovative Werke - wie etwa die Arbeiten von Winsor McCay ("Little Nemo"), Lionel Feininger ("The Kin-Der-Kids") und George Herriman ("Krazy Kat") - waren wesentlich für die Entwicklung des klassischen Strips, bei dem, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ein relativ starres Muster der einzelnen Bilder (der sogenannten Panels) verfolgt wird. Später wurde diese Struktur auch zur Grundlage unzähliger "comic books" (wöchentlich bzw. monatlich erscheinende Heftchen, die amerikanische Kinder und Jugendliche auch von ihrem Taschengeld bezahlen konnten), die nicht mehr nur "funnies" mit vermenschlichten Tieren waren, sondern sich in zahlreiche Subgenres wie Crime, Horror, War, Science Fiction, Romance und vor allem Superheroes aufteilten.
Dank der US-Comic-Zensur, die bereits in den 50er Jahren begann (ein Senator Kefauver brachte die bunten Hefte schon damals mit Jugendkriminalität in Verbindung, was schließlich zum berüchtigten "Comics Code" führte), reduzierte sich das Feld für die kommenden Jahrzehnte auf ein paar "funnies" und das immer weiter ausufernde Treiben der Superhelden. In unzähligen Serien der großen Verlage Marvel und DC, aber auch etlicher mehr oder weniger erfolgreicher Imitatoren durften Superman, Batman, Spiderman und andere kostümierte Übermenschen Woche für Woche absurde Superbösewichte bekämpfen und dabei stets amerikanische Werte hochhalten.
to be continued ...
Warren Ellis, Paul Gulacy & Jimmy Palmiotti - Reload
Wildstorm (USA 2004)
Links:
Warren Ellis, Jimmy Palmiotti & Amanda Conner - Two-Step
Wildstorm (USA 2003)
Links:
Warren Ellis u. a. - Global Frequency
Wildstorm (USA 2004); dt. bei Panini (Stuttgart 2007)
Links:
Warren Ellis & Mike Wolfer - Strange Killings
Avatar Press (USA 2001)
Links:
Warren Ellis & Darick Robertson - Transmetropolitan
Vertigo (USA 1998)
Links:
Anmerkung der Redaktion
Der hier virtuell abgedruckte Artikel erschien ursprünglich 2004 in Martin Comparts Noir-Reader "Dark Zone". Deshalb haben wir für Sie die eine oder andere Kleinigkeit mittels Fußnote aktualisiert:
* Leider brachte es "Global Frequency" nicht weiter als bis zu einem nie ausgestrahlten Pilotfilm. Der brach dafür allerdings vor einigen Jahren sämtliche Download-Rekorde.
** Warren Ellis´ erster Roman ist mittlerweile ebenfalls bereits erschienen und trägt den Titel "Crooked Little Vein". Lesen Sie dazu den nachfolgenden Review.
Links:
Warren Ellis - Crooked Little Vein
(William Morrow/Harper Collins 2007)
"I opened my eyes to see the rat taking a piss in my coffee mug."
Die Ratte, die Michael McGillis, dem Protagonisten dieses ungewöhnlichen Detektivromans, gleich im ersten Satz in den Kaffee pißt, ist das geringste seiner Probleme - aber typisch für sein (Berufs-)Leben. McGillis, der in seinem Büro wohnt, ist ein "shit magnet"; das heißt, er zieht immer die Fälle mit den richtig Perversen, Wahnsinnigen und unangenehmen Typen an. Zum Beispiel damals, als er einem untreuen Ehemann nachspionieren sollte und einen Sexkult aufspürte, der sich ganz besonderen tierischen Vergnügungen widmete: "You know what it´s like, finding eight middle-aged guys having tantric sex with ostriches?"
Eines Tages taucht jedoch der Stabschef des US-Präsidenten (ein zaundürrer, heroinsüchtiger Exzentriker, was sonst?) im Büro des Privatdetektivs auf und betraut ihn mit einer ganz besonderen Mission: Er soll die "Geheime Verfassung" der USA finden, ein Dokument, das von den Gründervätern für den Fall verfaßt wurde, daß die Moral der amerikanischen Bürger den Bach runtergehen sollte. Und das ist im Amerika des beginnenden 21. Jahrhunderts mit Sicherheit der Fall ...
Warren Ellis´Romandebüt ist all das, was seine langjährigen Fans von ihm erwartet haben: genüßlich pervers, unglaublich witzig, zynisch und idealistisch zugleich, voller Überraschungen und nie "gesehener" Bilder - kurz und gut: ein Buch, das sich als Krimi tarnt und dabei eine subversive Bewußtseinsbombe losläßt. In der zweiten Hälfte schwächelt "Crooked Little Vein" zwar ein wenig; aber das mag daran liegen, daß man vom "information overload" des ersten Teils halbbetäubt ist und trotzdem nicht zu lesen aufhören kann ...
Auf 280 Seiten läßt Ellis alles raus, was ihm bei seinen jahrelangen Recherchen in den dunklen Ecken des Internet untergekommen ist - und das in einem Stil, der gleichzeitig den klassischen Noir-Krimi parodiert, sich aber andererseits durch satirische Meisterleistungen auf jeder Seite, Kurzkapitel mit lakonischen letzten Sätzen und die großartigen Dialoge auszeichnet, mit denen er in der Comics-Branche berühmt geworden ist.
Kommentare_
Warren E. beweist einmal mehr Britannia rules. Aber gewaltig!
... wer sich für Comic Noirs interessiert sollte auch unbedingt ED BRUBACKER auschecken - mein absoluter Held des Genres! Brubaker hat mit seiner SLEEPER und CRIMINAL Serie Maßstäbe gesetzt! ... Cheers