Stories_Trash Rock Archives: Punk in Österreich, Teil 1
Ans ... zwa ... drei ... vier!
"Wann spielt ihr endlich Musik?" "Wir sind nicht die Deep Purple!"
Während man sich heute in metrosexuell-sleaziger Belanglosigkeit oder Emo-Indie-Sounds suhlt, krachten einst die Wiener Keller: Al Bird betreibt für EVOLVER popkulturelle Vergangenheitsbewältigung und präsentiert Punk in Österreich, von 1979 bis 1985: 20 Bands und ihre besten Songs.
15.06.2009
In London heißt es "Boredom" (Langeweile), aber im Verhältnis zu Wien ist dort total viel los. (...) Die Jugendlichen in z. B. London, Berlin, Hamburg, Amsterdam und auch in der Schweiz regen sich auf, daß sich in ihren Städten nichts tut. Wenn dort überall Langeweile ist, dann ist Wien der Tod überhaupt."
Ronnie Urini in einem Interview mit Panza, dem Herausgeber des Wiener Punk-Fanzines "TotesWien", 1979
Es war ja nur eine Frage der Zeit, bis sich Punk auch in die hintersten Winkel der Welt, beispielsweise bis nach Österreich herumsprechen würde. Und das trotz null Vernetzung und äußerst marginalen Informationsquellen.
1977 gab es gerade einmal die Sex Pistols, die Runaways und The Clash im deutschen "Bravo" und Sendungen wie die "Musicbox" oder "Popshop" auf Ö3. Aber so richtig befriedigend war das nicht. Schließlich mußtest du dir ja so ein "Bravo" kaufen beziehungsweise damals schon eines dieser sündteuren Tapedecks mit Aufnahmefunktion besitzen, um die Songs öfter als nur ein einziges Mal in deinem Leben hören zu können. Die Punk-Stücke, die in den Radiofreiräumen hin und wieder gespielt wurden, waren in österreichischen Plattenläden weitgehend nicht erhältlich. Wenn also einer deiner Freunde dann vielleicht nach London, Hamburg oder sonstwo in die westliche Welt gefahren ist, mußte er eben deine Plattenbestellungen entgegennehmen. Und wenn einer eine coole Single hatte, dann hat man sich getroffen, um sie gemeinsam anzuhören.
Hin und wieder verirrten sich aber auch bekannte Punk-Bands aus dem Ausland nach Österreich. Den Anfang machten The Clash im Oktober ´77. Im Jahr darauf spielten dann auch Patti Smith, Magazine, die Stranglers, 999 und Blondie in Wien und versprühten hier den Zauber der weiten Welt. Abgesehen von diesen wenigen Abenden im Jahr gab es jedoch kein Programm und kaum Infrastruktur für junge Leute, die sich für Punk interessierten und keine Lust hatten, Samstag abend in der Disco herumzuhängen. Kein Zufall also, daß die ersten Punk-Fanzines aus Wien - im Grunde nichts anderes als handgeschriebene, photokopierte und zusammengetackerte A4-Zettel -, die ab 1978 in kleinen Auflagen grassierten, auch Namen wie "Totes Wien", "Boredom" oder "Es is zum Scheissn!"trugen.
Seriöse österreichische Medien waren - wie immer - viel zu verhalten, wenn es darum ging, über neue Strömungen zu berichten. Aber immerhin: Im Jänner 1978 berichtete Ö3 seinen Zuhörern, es gäbe neuerdings auch in Wien eine Punkband namens Chuzpe - und brachte ein Interview mit deren Sänger Robert Räudig. Sprecher: "Also eigentlich ist ja der Spaß daran auch der, daß man sich einfach vor ein Publikum stellt, und die Leute zahlen Eintritt dafür, daß sie eine Band sehen, die eigentlich kaum spielen kann." - Räudig: "Richtig, das stimmt." - Sprecher: "Das ist ja irgendwo eine Art sadistische Befriedigung." - Räudig: "Es ist nicht so, daß wir nicht spielen können. Die Sachen sind sogar teilweise ziemlich kompliziert und wahnsinnig schnell gespielt. Es fällt aber nicht auf."
Das war schon einmal ein ganz guter Anfang ... Allerdings sollte es noch ein Weilchen dauern (um genau zu sein, war es im Mai 1979 soweit), bis der geneigte Musikkonsument auch Veröffentlichungen österreichischer Punk-Bands in Plattenläden würde erstehen können. Ist das schon wieder das Österreich-Syndrom? Dieses ewige Zwei-bis-drei-Jahre-hintennach-sein? (Anm. der Red.: zwei bis drei Jahre? Schön wär´s!)
Okay, im Nachhinein lassen sich auch in Österreich - zumindest theoretisch - Vorboten von Punk ausmachen: Die Skandalrocker von Novak´s Kapelle waren nach ihren beiden Protopunk-trächtigen Beat-Singles in den späten Sechzigern immerhin noch bis 1979/80 aktiv, der Sound ihrer 70er-Alben verharrte allerdings in den Gefilden des Heavy Rock. Und Drahdiwaberl - nur um noch eine zweite potentielle Punk-Vorläufer-Band zu nennen - machten musikalisch noch auf Mothers of Invention, auch wenn ihre Bühnen-Show zugegebenermaßen schon damals nicht von schlechten Eltern war ...
Und was ist mit dem Grazer "Wunderkind" Xao Seffcheque? Seinerzeit jüngster Clubbesitzer in der Steiermark, hat er - wie einige Demoaufnahmen beweisen - auch schon vor 1979 punkige Musik gemacht; allerdings mußte er erst nach Düsseldorf gehen, um in einer vielfach produktiveren Szene die Songs herauszubringen, die er aufgenommen hatte.
Eine weitere schräge Gestalt in den Annalen der österreichischen Rock-Musik ist Lou Grübli alias General Guglhupf (alias Marcel Houf), der bereits in den späten Siebzigern in Bands wie The Velvet Underground Revival Band oder Terror-Express wirkte. Sein Song-Repertoire, das weitgehend dem Rock der 60er Jahre entliehen war, stellt eine schöne Analogie zum amerikanischen Proto-Punk des CBGB´s mit Protagonisten wie Wayne County, den Flaming Groovies oder den Ramones dar, die ja auch allesamt gerne Rock´n´Roll- oder Beat-Coverversionen zum besten gaben. Ewig schade also, daß der General, so wie viele andere österreichische Zeitgenossen, es seinerzeit nicht schaffte, einen Release rauszuhauen ...
Von der österreichischen Musikpresse völlig übersehen und bar jeder Vernetzung ins restliche Schnitzelland wurde aber auch schon in Vorarlberg - vor 1979 - emsig an der Idee gewerkelt, Punk-Platten zu veröffentlichen. Mehr dazu später.
Die ersten Wiener Punks trafen sich indes in Hinterräumen verrauchter Cafés, in Jugendzentren, Häusern der Begegnung, auf Flohmärkten oder im Milchkandl, einer aufgelassenen Kellerdiskothek, die Chuzpe als Proberaum nützten. Und so fing das dann alles an - langsam und gemächlich.
Kurz nachdem in der ORF-Sendung "Ohne Maulkorb" Anfang 1979 mit dem Ende der Sex Pistols auch die Punk-Bewegung großspurig für tot erklärt wurde, ging auch in Österreich endlich der Knopf auf, und die ersten heimischen Punk-Bands trauten sich, ihre Songs auf Platte zu veröffentlichten. Getreu dem Motto: Das kann ich auch! Aber schließlich war es ja nur eine Frage der Zeit, bis sich Punk auch in die hintersten Winkel der Welt, beispielsweise bis nach Österreich, herumsprechen würde ...
Okay.
Let´s play!
01.) Chuzpe - Beislanarchie (1979)
LP - Various Artists: "Wiener Blutrausch" (Schnazz); Reissue auf Tonau Records (CD)
Kompiliert auf: Chuzpe - "Obskures und Rares, Lügen und Wahres der formidablen Formation Chuzpe" (LP/Vis Maior)
"20.00 Uhr: Das Konzert beginnt fast auf die Minute genau. Der Sound ist miserabel, der Sänger unverständlich. Das liegt wahrscheinlich auch daran, daß die Anlage ausgeborgt ist. Bereits nach einigen Minuten beginnen einige Punks zu 'tanzen'. Eine Motorradgruppe stört durch Zwischenrufe: 'Wann spielt ihr endlich Musik?' Darauf der Sänger Robert Räudig: 'Wir sind nicht die Deep Purple!' "
die Wiener Stadtzeitung "Falter" über eines der ersten Konzerte der Formation Chuzpe im Jänner 1978
Chuzpe war mit hoher Wahrscheinlichkeit die erste echte Punk-Band in Österreich. 1977 formierten sie sich mit der Grundidee, The Velvet Underground mit Wolfgang Ambros zu kreuzen. Unter dem Einfluß der Ramones und Sex Pistols entwickelte sich ihre Musik aber mehr und mehr zu Punk. 1978 nahmen sie im Gorilla Studio ihre Songs auf, wovon vier für die Veröffentlichung auf einer Single ausgewählt wurden. Dies wäre der erste Punk-Release in Österreich gewesen, allerdings wurde die Produktion aus Kostengründen leider vorzeitig eingestellt. (Zwei der damals nicht veröffentlichten Stücke, "Nervengas" und "Kopfschüssler", sind posthum 1997 auch auf der nennenswerten Austro-Punk-Compilation "Es Chaos is die Botschaft" erschienen.)
Erst im Mai 1979 kamen dann auf dem "Wiener Blutrausch"-Sampler drei Songs von Chuzpe heraus. Der vielleicht gelungenste - "Beislanarchie" - ist eine wahre Perle des Siebziger-Punk und übt in bester Agitrock-Tradition Kritik an der Hippie-Mentalität der linken Wiener Szene: "Beislradikale/Höret die Signale/Internationale/Hoi Hoi Hoi Hoi/Diskussion verbissen/Hirn längst verschissen/Tote Ideale versperrn die Sicht/Mit Schmalzbrot, Tee und Wein/lullen wir uns ein/bei Biermann und bei Bier/kriegn feuchte Augen wir".
Die Band trat 1979 eine Zeitlang auch als Robert Räudig and the Beat Boys auf und veröffentlichte noch im selben Jahr die erste Chuzpe-Single, die stilistisch bereits in Richtung Neo-Garage und Mod-Wave ging. Dies war der Beginn einer Entwicklung, die Chuzpe in späteren Jahren zu einer der erfolgreichsten österreichischen New-Wave-Bands ihrer Zeit machen sollte. Aber auch der "Wiener Blutrausch"-Sampler ging in die Geschichte ein, da sich hier mit Chuzpe, der Mordbuben AG, Mini-Sex und Drahdiwaberl vier der wichtigsten österreichischen Bands der nächsten Jahre versammelt hatten, wobei noch keine von ihnen jemals zuvor auf einer Plattenveröffentlichung zu hören gewesen war. Von den Jazz-Rockern Metzlutzkas Erben - der fünften Band auf dieser Compilation - hat man in den Folgejahren dafür nichts mehr gehört.
Am Abend der Release-Party im Metropol traten die Gruppen dann auch alle auf, wobei die anwesenden Punks bei Chuzpe und der Mordbuben AG voll auf ihre Kosten kamen. Den unvergeßlichsten Auftritt dieses Band-Großaufgebots hatte aber der Headliner Drahdiwaberl, als sich General Guglhupfals Gast die Ehre gab, sich mit einem Messer durch den Mund fuhr, Kunstblut ins Publikum spuckte und anschließend in einen Kübel kotzte, während die ehemalige Prostituierte Lotte Pawek ungeachtet jeglicher Harmonielehre das Lied "Ganz Paris träumt von der Liebe" intonierte. Die Sache war nun also auch mit Körpersäften besiegelt. Circa 200 der insgesamt 1000 Stück starken Auflage des "Wiener Blutrausch" wurden vor Ort in einem neutralen Plattencover gegen einen Aufpreis als Eintrittskarte ans Publikum verteilt. Diese nur an jenem geschichtsträchtigen Abend erhältlichen LPs stehen heute ganz weit oben auf den Want-Listen verrückter Plattensammler aus aller Welt, die bereit sind, enorme Geldbeträge hinzublättern, um den Beleg dafür in Händen zu halten, daß es sie wirklich gab: die Geburtsstunde des Punk in Österreich.
02.) Chaos - Get Out Of My Pocket (1979)
45 - Split-12" mit The Sick: "Chaos" b/w "The Sick" (Off Course Records)
Kompiliert auf: "Es Chaos is die Botschaft" (LP/Luziprak Records)
Sprecher: "Wie reagiert konkret das Publikum auf eure Musik und überhaupt eure Art, sich zu geben?"
Bröckel: "Es gibt zwei Arten von Publikum. Es gibt das Schweizer - das gute - Publikum und das Scheißpublikum von Vorarlberg, denn es weiß gar nicht, was wir wollen."
Sprecher: "Ich habe fast das Gefühl, daß ihr in Vorarlberg gar nicht gerne auftretet."
Bröckel: "Doch. Wir treten hier sehr gerne auf, weil man da die Leute so richtig verarschen kann."
Auszug aus einem Radio-Interview mit Franz Bröckel, dem Sänger der Gruppe Chaos, ORF Vorarlberg 1979
Eine Punk-Band aus Vorarlberg? Was in den frühen Achtzigern als unglaubliches Gerücht in Wien die Runde machte, war für die aktive Punk-Szene in der Schweiz längst eine erwiesene Tatsache. Chaos formierten sich im Dezember 1977 in Feldkirch und spielten bereits im Februar 1978 ihr erstes Konzert. Der Band-Name wechselte anfangs ständig: Lobotomy, Mass Production, Kick, Fear, The Gay und dann schließlich Chaos. Nach Konzerten in Bregenz und Dornbirn folgten vielbeachtete Auftritte in Zürich und St. Gallen. Mehrstimmige, Clash-lastige Chöre, hohes Spieltempo und energetisches Auftreten machten sie schnell zu Stars in der Schweizer Punk-Szene. "Aber keine Angst, es steht keine Invasion aus Österreich bevor. Chaos sind wirklich die einzigen aus den Knödellanden, die mithalten können", beruhigte seinerzeit ein lokales Punk-Fanzine seine Leser. Im April 1979 nahmen sie in den Sunrise-Studios ein paar Songs auf, wovon zwei auf einer Split-Maxi-12" zusammen mit der Schweizer Band The Sick von dem bekannten Zürcher Label Off Course Records herausgegeben wurden. "Get Out Of My Pocket" hat das Potential einer britischen 77er-Punk-Hymne und unterstreicht noch einmal die kleine Sensation: Eine der allerersten österreichischen Punk-Bands kam aus Vorarlberg, vom Arsch der Welt. Zeitgleich zu Chaos traten die Mitglieder übrigens auch als The Boyfriends auf. Nachdem sich Chaos im Jahr 1981 getrennt hatten, gründete Franz Bröckel die Wave-Band Les Passpartout, Drummer Galletauchte bei Null Komma Nichts wieder auf.
"Sensationell schleißiger Sound!" meint Götz Schrage, in den frühen Achtzigern Musikredakteur beim "Wiener" und Blümchen-Blau-Keyboarder, über die Aufnahmen der Mordbuben AG. "Ich kann überhaupt nicht sagen, was das Geheimnis der Mordbuben war. Aber es gab eines. Und das war, daß sie so einen hatscherten Sound gehabt haben."
Fürwahr, mit heutigen Ohren klingen die Outputs der Mordbuben AG weniger wie Punk denn wie eine zugedröhnte Mischung aus Hard Rock und Power-Pop. Das wirklich Spezielle an dieser Band war ihr harter Live-Sound, ihr Böse-Buben-Image und ihr Rocker-Auftreten in button-übersäten Leder-Jacken. Ihre tighten Arrangements räumten der Amateurhaftigkeit des Punk zwar keinen Platz ein, hoben dafür allerdings dessen Rock´n´Roll-Wurzeln nochmals deutlich hervor. Die Punks von Wien zollten ihnen jedenfalls hohen Respekt. Und wenn man sich die Mordbuben AG in etwa wie die österreichischen Dictators vorstellt und dazu noch die Beheimgasseals das CBGB´svon Wien, dann funktionieren auf wundersame Art und Weise auch Mordbuben-Plattenveröffentlichungen als authentische Artefakte der ersten österreichischen Punk-Generation. Nachdem sie dem "Wiener Blutrausch"-Sampler drei Songs beigesteuert hatten, erblickte ihre erste 7"-Single das Licht der Welt. "Komm gib mir deine Hand" ist die wienerische Cover-Version des gleichnamigen, in deutschsprachigen Ländern veröffentlichten Beatles-Songs. Ein Jahr später nahm die Band für das Major-Label WEA noch ein etwas überproduziertes und deshalb von der Punk-Szene völlig geschmähtes Album auf. Es wurde noch eine Single in Berlin produziert, bevor es 1981 erst einmal still um die Mordbuben AG wurde.
04.) Arlo Stenmit and his Hammerkids - Belinda (1979?)
45 - "Belinda" b/w "Cop´s Boogie" (COP Records)
Kompiliert auf: "Bloodstains Across The World #2"
Keine Ahnung, wer sich hinter dieser Single verbirgt. Fast niemand aus der Wiener Punk-Szene hat damals von dieser Band gehört. Erst in Neunzigern erlangten Arlo Stenmit and his Hammerkids einen gewissen Bekanntheitsgrad, als die internationale Punk-Compilation-Reihe "Bloodstains Across The World" den Song "Belinda" in ihre Auswahl stellte und diesen obskuren 7"-Release innerhalb kürzester Zeit auf die Suchlisten weltweit ansässiger Punk-Plattensammler hob. Wenn man sich "Belinda" anhört, kann man das Interesse aber schon nachvollziehen: Der Song rockt. Zudem klingt er wie eine Punk-Rock-Verarsche im Stil von Johnny Moped: schlechtes Englisch, verstellte Stimmen, ein fetziges Gitarrenriff und Mitgröhl-Refrains definieren das seltenene Genre Comedy-Punk. Daß diese Single auf einem kommerziellen, sonst auf öde Pop/Rock- und Disco-Veröffentlichungen spezialisierten Label erschienen ist, tut dem Spaß dabei auch keinen Abbruch.
Kompiliert auf: "Springtime in Belsen" (LP/Sadist Records), "Es Chaos is die Botschaft" (LP/Luziprak Records)
"Jetzt war es Zeit für Dirt Shit. Einige Leute waren schon vorne bei der Bühne und als Dirt Shit loslegten, wurden es immer mehr. Von der ersten Nummer an schneller, kräftiger, mitreißender Sound. Der Sänger rutschte auf der Bühne herum und paßte genau zu dieser Musik. Nur schade, daß man die Texte nicht verstehen konnte. Hinten an den Tischen saß fast niemand mehr, alle hüpften vorne im Pogo herum. Eine kurze Nummer nach der anderen, mir wurde immer heißer und ich mußte mich halb ausziehen, um noch mithalten zu können. Als wir nicht mehr konnten, hörten sie auf zu spielen."
Panza über das "Adventhorror-Konzert" in der Beheimgasse, aus dem Wiener Punk-Fanzine "Boredom", erschienen 1978
Dirt Shit war eine Wiener Punk-Band der ersten Stunde, gegründet 1978. Die Mitglieder waren extrem jung und in Anbetracht ihres Band-Namens offensichtlich höchst angetan von Fäkalworten der englischen Sprache. Anfangs noch mit Robert Räudig am Schlagzeug, holten sie 1979 Ronnie Urini in ihre Fix-Besetzung und gaben als Vorgruppe von Willi Warma auch Konzerte in Linz, bei denen sie anfangs wegen ihrer Amateurhaftigkeit vom dortigen Publikum noch gehörig ausgebuht wurden. Doch Dirt Shit mauserten sich zum Pflichtprogramm der jungen Punks und hatten bald den Ruf, die beste und schnellste Pogo-Punk-Band Wiens zu sein.
Über die Vermittlung von Konrad Becker - Kopf des experimentellen Minimal-Elektro-Projekts Monoton - fand ein Gespräch zwischen Dirt-Shit-Musikern und Regisseur Franz Novotny statt, der gerade auf der Suche nach Bands für den Soundtrack seines Kinofilms "Exit - Nur keine Panik" war. Vor Zeugen einigte man sich mündlich darauf, daß Dirt Shit einige Songs beisteuern sollten. Drummer Urini ergatterte überdies sogar einen Part als Schauspieler im Film. Doch als er sich während der Dreharbeiten mit den Darstellern Hanno Pöschl und Peter Weibel anlegte, flog er kurzerhand wieder raus. Da die Gruppe so in Ungnade gefallen war, wurden nun auch die Dirt-Shit-Aufnahmen seitens der Produktionsfirma bemängelt und als zu hart und derb abgelehnt. Die Band überlegte nicht lange und verklagte den Filmemacher daraufhin auf Schadenersatz. Die geforderte Summe: eine Million Schilling!!! Aber schließlich löste man das Problem doch außergerichtlich. Novotny zahlte 10.000 Schilling an die Band und finanzierte so wider Willen die Produktion der legendären Dirt-Shit-EP "Rattenloch", die Ende 1979 in einer Auflage von 300 Stück erschien. Und laßt euch folgendes gesagt sein: Die Songs auf dieser EP sind wirklich unglaublich. Dirt Shit treiben die Abschaum-der-Gesellschaft-Idee und die Räudigkeit des Punk-Sound derart auf die Spitze, daß der freundliche japanische Plattensammler, der die "Rattenloch-EP" gerade zum ersten Mal gehört hat - möglicherweise, kurz bevor er ein kleines Vermögen für die Originalpressung hinblättern wird - nur mehr in hellster Verzückung ausrufen kann: "Wow! I did not know Punk Rock was invented in A-U-S-T-R-I-A!" Und was steht auf dem Cover der Platte? "Musik aus dem Film 'Exit' ". Einfach genial.
06.) Underground Corpses - Tod in der U-Bahn (1980)
45 - Various Artists: "Kellerrock EP" (Razz Records)
Kompiliert auf: Ronnie Urini - "The Decade of Decay" (LP/Bat-Rok/Ton um Ton)
Ronnie Urini, seines Zeichens Schlagzeuger oder Sänger in unzähligen Punk- und Wave-Bands der ersten und zweiten Generation (WC-Band, Dirt Shit, Willi Warma in ihrer Erstbesetzung, The Vogue, Kleenex Aktiv, R.P.B., Rucki Zucki Palmencombo, Ronnie Urini & The Last Poets) verweigerte immer wieder gekonnt die Vereinnahmung durch die "Szene" und tauchte damals schon in völlig unklassifizierbaren Band-Konstellationen auf, die mit gängigen Definitionen von Punk nicht viel zu tun hatten. Die Underground Corpses, denen auch Chuzpe-Bassist Christian Krucefix angehörte, waren eine mit Bläsersätzen angereicherte avantgardistische Instrumental-Band, irgendwo zwischen New Wave und No Wave, und die Punks in Wien fanden diese Band - zu Recht - völlig verstörend. Ihr einziger veröffentlichter Song "Tod in der U-Bahn", ein Remake des "Subway Song" der britischen Gruftie-Formation The Cure, war allem Vernehmen nach völlig untypisch für den Live-Sound der Underground Corpses.
Die Inspiration zum Songtext erhielt Urini durch folgende Geschichte: Die beiden Punks Panza und Sven (Pöbel) waren eines Abends in der U-Bahn von Rockern überfallen und verprügelt worden. Panza: "Wir sind dann geflüchtet und haben 'Polizei! Polizei!' geschrieen, woraufhin die Polizei gekommen ist und uns verhaftet hat. Sie haben geglaubt, daß wir die Randalierer waren." In einer Auflage von 500 Stück erschien "Tod in der U-Bahn" auf der "Kellerrock"-EP, auf der auch die Neo-Garage-Kultband The Vogue, Chuzpe in ihrer kurzen Mod-Phase und die spaßige Zytacorean Tirtum Gang vertreten waren. Dazu gab´s im März 1980 auch eine kleine Tour mit vier geplanten und letztendlich drei abgehaltenen "Kellerrock-Festen", bei denen die Bands alle live spielten und die Gäste als Eintrittskarte die - auf gelbem Vinyl gepreßte - EP bekamen. Ein kleiner Meilenstein für den Wiener Underground.
07.) Willi Warma - Streetcorner Hero (1980)
45 - Various Artists: "Donaustrand EP" (Blue Wave)
Wenn auch mit heutigen Ohren wenig spektakulär, ist die EP "Donaustrand" das erste echte Zeitdokument von Szenenvernetzung zweier österreichischer Städte. Das Konzept war simpel und gut: Zwei Bands aus Wien (The Vogue und Tom Pettings Hertzattacken) und zwei aus Linz (Miss Molly´s Favourites und Willi Warma) steuerten dieser auf edelblauem Vinyl gepreßten EP jeweils einen Song bei, wovon die eine Hälfte in Wien und die andere in Linz verkauft wurde.
Das Projekt war überaus erfolgreich - und "Donaustrand", das immerhin die Release-Debüts der später nicht ganz unbedeutenden Gruppen Tom Pettings Hertzattacken, Miss Molly´s Favourites und Willi Warma enthielt, rasch ausverkauft. Die Aufarbeitung der Geschichte der kultigen Linzer Wave-/Punk-/Teufels-Band Willi Warma und ein paar ihrer besten Songs gibt´s übrigens seit einiger Zeit in Form der CD "Stahlstadtkinder" (erschienen bei Fischrecords) im gutsortierten Fachhandel zu kaufen. Also komm, schnapp sie dir!
08.) Pöbel - Scheiß aufs Bundesheer (1981)
45 - "Es lebe hoch die Perversion EP" (Panzaplatte)
Kompiliert auf: "Es Chaos is die Botschaft" (LP/Luziprak Records)
"Pöbel bestehen aus 4 Mann. Aus Sven (G, SS), Lörkas (B), Andi Abschaum (G) und Tschurie (D). Spielen unheimlich schnell. Haben bei ihren Auftritten bis jetzt vielleicht etwas eintönig und chaosmäßig geklungen. Aber wenn die Gruppe genügend Proben hinter sich hat werden sie sicher recht gut sein."
Erwin Bösling in der Rubrik "Neue Gruppen" aus dem Wiener Punk-Fanzine "Es is zum Scheissn!" im Oktober 1980
Kurz nach ihrer Gründung 1980 entwickelten sich die Punks von Pöbel zu einer vielgepriesenen Live-Band, die es meisterlich verstand, mit einem sehr schnellen und harten Sound, wienerischen Proletentexten und dem adäquaten Verhalten auf der Bühne ihr Publikum zu begeistern.
"Pöbel sind auf der Bühne herumgesprungen, haben geschrien, gestritten, laut aufgedreht. Wenn das Timing nicht gestimmt hat, haben sie den Song abgebrochen und nach einer Minute wieder neu gestartet. Das waren echte Punk-Profis. Cool. Die haben getan, was man tun muß", erinnert sichGötz Schrage an eines ihrer Konzerte.
Im Jänner 1981 wurden 200 Stück der Pöbel-EP "Es lebe hoch die Perversion" als "Testpressung" auf dem Wiener DIY-Label Panzaplatte veröffentlicht, das der junge Punk Panza zusammen mit Ronald Exzess (alias Ronald Fleischmann, später Initiator der New-Wave-All-Star-Band Der Eiserne Vorhang) gegründet hatte. "Die Produktion war damals sehr mühsam, weil es schwierig war, die ganze Band zum gleichen Zeitpunkt im Studio zusammenzubekommen. Dann mußten sie ihre Lieder ewig spielen, bis sie endlich ganz aufgenommen waren", erinnert sich Panza heute mit einem Anflug von Grauen. Doch die Strapazen haben sich ausgezahlt, und so wurden drei ultraderbe Hardcore-Punk-Songs einer der kompromißlosesten Bands aus dem Underground Wiens für die Ewigkeit konserviert. Einige Monate später löste sich die Band dann auf.
09.) Die Böslinge - Scheiß Kibarei (1981)
45 - "Scheiß Kibarei EP" (Panzaplatte)
Kompiliert auf: "Es Chaos is die Botschaft" (LP/Luziprak Records), Die Böslinge - "Scheiß Polizeistaat" (LP/Höhnie Records)
Die Böslinge wurden im Dezember 1979 in Wien gegründet und fanden rasch Anschluß an die junge Punkszene. Im Februar 1980 debütierten sie im Amerlinghaus und spielten danach weitere Gigs im Wiener Raum, beispielsweise in der Arena, im Metropol oder in der Gaga (Gassergasse). Zwei Höhepunkte ihrer Karriere waren ein Konzert in der Psychiatrie Steinhof sowie ihr Mitwirken in einem Beitrag der ORF-Fernsehsendung "Ohne Maulkorb", in dem die Böslinge mit Interview und Konzert-Live-Mitschnitt gewürdigt wurden. Nach einem Bassistenwechsel veröffentlichten sie schließlich ihre legendäre EP. Der Song "Scheiß Kibarei" erzählt vom Wien der frühen achtziger Jahre, in dem alles verboten ist, und behandelt reale Begegnungen der Punkszene mit der Exekutive.
Der Herausgeber des Punk-Fanzines "Es is zum Scheissn!" und Böslinge-Lead Gitarrist/Sänger Erwin Bösling über die Aufnahmen: "Insgesamt haben wir nur einen Tag Zeit gehabt fürs Aufnehmen und fürs Mischen.Wir haben das 'Scheiß Kibarei' einmal eingespielt, und das hat gepaßt." Daß die Songs schnell und unaufwendig produziert worden sind, hört man ihnen auch an. Und letztendlich sind auch dies die Faktoren, die diese EP so charmant und begehrt machen: angefangen bei der dumpfen Aufnahmequalität über den First-Take-Charakter der Songs bis hin zum wirklich stylischen Plattencover, um gar nicht erst von den super-trashigen Wienerisch-Texten der Böslinge zu sprechen. Einige Sammler sind heutzutage bereit, für ein Exemplar in gutem Zustand 300 bis 400 Euro abzudrücken. Aber das sollte dich - als Leser der "Trash Rock Archives" - jetzt nicht sonderlich schockieren.
Letzte Info: Nachdem sie sich kurz nach der EP-Veröffentlichung in den frühen 80ern aufgelöst hatten, erlebten die Böslinge 20 Jahre später tatsächlich eine Reunion und begannen im Jahr 2000 wieder damit, mit ihrem straighten Dialekt-Punk auf Festivals und Punk-Konzerten aufzutreten. Und da es sie bis zum heutigen Tage noch gibt, sind Die Böslinge aus Wien - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - die dienstälteste Punk-Band Österreichs. Cowabunga!
10.) Plastix - Geschlechtsverkehr (1981)
Unkompiliert.
11.) A-Gen 53 - Scheiß auf Lila (1981)
LP - Various Artists: "Die Tödliche Dosis" (Lustgewinn Schallplatten)
Kompiliert auf: "Wienpunk" (MC/Latti Records)
Bereits 1979 gab es in Wien eine Punk-Band mit Lead-Sängerin: Uschi Paranoia und die kranken Mönche gaben durch ihre komplette Amateurhaftigkeit, die sie wie ein Bekenntnis zur Totalverweigerung hochhielten, der Punk-Szene wichtige Inputs und nahmen einigen aus dem Publikum die Scheu, auch selber einmal auf der Bühne zu stehen. Leider schafften sie es nie bis in ein Aufnahmestudio und lösten sich schnell wieder auf.
Eine weitere Punk-Band mit Frau am Mikro waren die Plastix aus Wiener Neustadt, die aus den Melangeratten entstanden waren. Nachdem sie die Bekanntschaft der "Kurier"-Redakteurin Andrea Bartl gemacht hatten, holten sie sie kurzerhand als Sängerin in die Besetzung und vollzogen die Band-Umbenennung. "Sie war optisch eine ziemliche Augenweide. Völlig abgefuckt, mit Plastik, Tixo, total punkig - überhaupt nicht auf Schickimicki. Und gesungen hat sie sowieso so, als würd´ ihr dauernd wer auf den Schweif treten", erinnert sich Drummer Peter Vukics lachend an den Beginn der Plastix, deren umtriebiger Gitarrist Christian Gruber etwas später auch bei Karl Gott und den Vergifteten Pfeilen spielte. "Von wo kommen die Leut´ her?/ Von wo kommen die Leut´ her?/ Vom Geschlechtsverkehr mit dir!"
Einmal gehört, kriegt man den Plastix-Song "Geschlechtsverkehr" nicht mehr so schnell aus dem Ohr. An der Stelle "dir" quietscht Sängerin Bartl in derart übersteigerter Nina-Hagen-Manier ins Mikro, daß die Nadel in einer Mischung aus Schreck und Begeisterung salutierend vom Plattenteller zu springen droht. Auch Niki List selig dürfte auf den Song abgefahren sein, schließlich hört man "Geschlechtsverkehr" in fast voller Länge in einer Szene seines Debüt-Langfilms "Malaria". "Bei den Plastix-Aufnahmen haben wir damals nicht viel herumgefackelt. Ich glaub, wir haben das einmal eingespielt und dann so gelassen. Wir waren überhaupt sehr radikal. Unser Leitsatz war irgendwie 'ja nicht reich und berühmt werden' ", sagt Vukics heute zum Sound ihrer Aufnahmen. Dieser Maxime Rechnung tragend, trennten sich die Plastix nach nur vier Konzerten - drei im U4, eines im Metropol - von Sängerin Bartl und machten ganz avantgardistisch als Westblock weiter - übrigens recht erfolgreich.
Das Rennen um die erste Frauen-Punk-Band Österreichs entschieden schließlich A-Gen 53 für sich, die sich im Sommer 1980 in Wien formierten. Ein schlichtes Line-up - Schlagzeug, Baß, Gitarre, Gesang - und ein punkiges Set, angereichert mit Cover-Versionen von Troggs, Devo und Sex Pistols, bildeten die Basis ihrer ersten Auftritte, die einigen Zeitzeugen als äußerst chaotisch in Erinnerung geblieben sind. Nach einem Besetzungswechsel, bei dem Nivea Sängerin Claudia K. ersetzte, hatte die ehemalige All-Girl-Punk-Band 1981 nun auch plötzlich einen männlichen Drummer. So entstanden im Sommer 1981 die Aufnahmen für die Compilation "Die Tödliche Dosis", die auch Aufnahmen anderer feiner Punk- und schräger Experimental-Wave-Bands aus Wien und Umgebung wie A.K.G. - Athletiko Kunst Gerasdorf, Molto Brutto, Commercials, Sprays und der obenerwähnten Plastix enthielten. Im Jänner 1982 lösten sich A-Gen 53, die ersten Female-Punks Österreichs, schließlich auf. Zum Schluß noch eine Textpassage aus ihrem Song "Scheiß auf Lila": "Lila ist die Modefarbe/Deshalb ich jetzt jetzt Lila trage/Sagt die Susi zu der Vera/Ja, man hat es immer schwerer/Und weil die Mode ständig wechselt/Und man sowas schnell verwechselt/Scheiß auf Lila!/Scheiß auf Lila!/Scheiß auf Lila!/Scheiß auf Lila!"
Lesen Sie im zweiten Teil, wie es mit der österreichischen Punk-Bewegung weiterging - und wie die Aufarbeitung heimischer Subkultur aussieht ...
Al Bird hat seinen ursprünglich in "Rokko´s Adventures" (Ausgabe 4) erschienenen Artikel für die vorliegende EVOLVER-exklusive Version um zahlreiche Informationen und Interviews erweitert. "Rokko´s Adventures" sollten Sie natürlich trotzdem kaufen - oder lieber gleich abonnieren.
Beat-Musik aus Österreich? Gab´s nicht? Gab´s doch! Die Kollegen von "Rokko´s Adventures" gingen dem Phänomen anhand 20 teils längst vergessener Beat-Bands und ihrer Single-Veröffentlichungen nach.
Al Bird Sputniks Reise in die musikalische Vergangenheit Österreichs fernab des Austro-Pop geht in die zweite und letzte Runde: Wir präsentieren die Tracks 12 bis 20 seiner lautstarken Punk-Compilation.
Stories
Trash Rock Archives: Punk in Österreich, Teil 1
"Wann spielt ihr endlich Musik?" "Wir sind nicht die Deep Purple!"
Während man sich heute in metrosexuell-sleaziger Belanglosigkeit oder Emo-Indie-Sounds suhlt, krachten einst die Wiener Keller: Al Bird betreibt für EVOLVER popkulturelle Vergangenheitsbewältigung und präsentiert Punk in Österreich, von 1979 bis 1985: 20 Bands und ihre besten Songs.
Kommentare_
So a Schaaas - lieber 20 bis 30 Jahre hint nach - und weiterhin Qualtinger & Kreisler hören ;)