Nummer 6
(The Prisoner)
Koch Media (GB 1967)
DVD Region 2
892 Min. + Zusatzmaterial, dt. Fassung oder engl. OF
Regie: Patrick McGoohan u. a.
Darsteller: Patrick McGohaan, Guy Doleman, Leo McKern u. a.
Die Kooperation zwischen EVOLVER und DIE SPRECHBLASE geht weiter - mit dem zweiten Teil von Gerhard Försters Artikel über die legendäre Fernsehserie "The Prisoner" alias "Nummer 6". Diesmal geht es um geheimnisvolle Orte in England, die Männer im Hintergrund und immer noch um einen äußerst exzentrischen Schauspieler. 25.02.2015
Lesen Sie im ersten Teil über den Inhalt der Serie, Hauptdarsteller Patrick McGoohan und John Drake.
George Marksteins Anteil
George Markstein (1929-1987), der bereits für "Danger Man" als Script Consultant (jemand, der Drehbücher beurteilt und optimiert) gearbeitet hatte und im Vorspann als Vorgesetzter von Nummer 6 zu sehen ist, war aufgrund seiner früheren journalistischen Tätigkeit ein Spezialist für geheimdienstliche Themen. Er hörte erstmals während des Krieges von einem verborgenen Internierungslager: 1941 wurde das abgelegene schottische Anwesen Inverlair Lodge aus dem 18. Jahrhundert von der SOE, einer nachrichtendienstlichen Spezialeinheit der Briten, beschlagnahmt und mit der Deckbezeichnung "Nr. 6 Special Workshop School" (!) versehen. Es war eine Einrichtung, die ausrangierte Geheimdienstler beherbergte - vor allem Leute, die die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt hatten und deren Wissen nunmehr eher eine Bedrohung für die Heimat als für Hitler darstellte. Obwohl sie einigermaßen komfortabel lebten und sich tagsüber sogar unter die örtliche Bevölkerung mischen durften, frustrierte die Insassen ihre Lage.
Aus diesem Wissen entstand die Grundidee für "Nummer 6" und die Basis für das "Village". Doch schon die "John Drake"-Episode "Colony 3" aus dem Jahre 1964 weist starke Parallelen zu "The Prisoner" auf. Drake reist darin undercover an einen Ort hinter dem Eisernen Vorhang, der einer typisch englischen Kleinstadt nachempfunden wurde. Hier wohnen Briten, die aus unterschiedlichen Gründen die politischen Fronten gewechselt haben. Sie sind zu Trainingszwecken da, um später als Spione in die Heimat zurückzukehren. Niemand darf den Ort verlassen, und alle werden durch Personen überwacht, die als Nummer 1 und 2 bezeichnet werden. Von Nummer 6 erhält Drake eine Führung durch den Ort und wird Zeuge, wie jemand mit Elektroschocks bestraft wird.
Für George Markstein war "Nummer 6" eine Fortsetzung von "Danger Man" - und Nummer 6 war John Drake, der dabei ist, eine große Weltverschwörung aufzudecken. Auf die Nennung des Namens verzichtete er einzig und allein aus rechtlichen Gründen. Patrick McGoohan hingegen, der zweite Vater der Serie, sah darin eine abstrakte Parabel, eine Allegorie, vollkommen losgelöst von John Drake. Konflikte waren somit vorprogrammiert. Doch wer war der eigentliche Initiator von "Nummer 6"? Markstein rühmte sich damit, daß er sich die Serie während einer abendlichen Eisenbahnfahrt ausgedacht hatte; McGoohan wiederum sagte, daß er mit seiner Idee zu ATV-Chef Lew Grade (1906-1998) gegangen sei, der grünes Licht dafür gegeben und ihm die kreative Kontrolle gewährt habe - dies allerdings erst, nachdem ihm McGoohan zugesichert hatte, daß es ein logisches Ende der Rahmenhandlung geben würde (siehe auch die Zitate-Sammlung später in diesem Artikel).
McGoohan schwebten sieben Episoden vor, doch Lew Grade, der Chef der britischen Produktionsgesellschaft ITC, brauchte mehr Folgen, um die Serie in die USA verkaufen zu können. Grade bewilligte ein großzügiges Budget von 75.000 Pfund. Das Geld wurde an McGoohans Firma Everyman Films überwiesen, die er 1960 gemeinsam mit David Tomblin, einem wichtigen Drehbuchautor und Regisseur von "Nummer 6", gegründet hatte. Lew Grades Firma finanzierte Everyman Films. Doch McGoohan hing auch mit seinem eigenen Geld drin, wie wir noch sehen werden. Ein weiterer bedeutender Regisseur war Don Chaffey, der die legendäre Titelsequenz und vier Folgen - darunter die ersten beiden - inszenierte. Markstein war bei der Serie Script Consultant und Editor sowie Koautor der ersten Episode, gemeinsam mit Tomblin. (Als professioneller Drehbuch- und Romanautor wurde er erst etliche Jahre danach tätig, und das durchaus erfolgreich, z. B. stammt von Markstein das Drehbuch zu "Bullitt".) Zweifellos waren es die ungewöhnlichen Ideen McGoohans, die der Serie ihren späteren Kultstatus ermöglichten, doch Markstein sorgte für Bodenhaftung und machte aus abgehobenen Ideen und symbolgeladenen Storys brillante und stimmige Drehbücher. Seinen Anteil an der Serie darf man keinesfalls unterschätzen.
Das einzigartige Portmeirion
Als die Crew auf der Suche nach einem Drehort war, der völlig anders und möglichst verschroben anmuten sollte, entdeckte sie in einer Beilage der Sunday Times Portmeirion. Markstein fuhr in das künstliche Dorf an der Küste von Snowdonia im Norden von Wales und sah es sich an. Er mochte es nicht besonders und meinte: "Ich kann mir vorstellen, wie jemand mit Kopfschmerzen und einem Durchhänger in Portmeirion aufwacht und verrückt wird." Mit anderen Worten, der Ort war ideal geeignet für eine Serie wie "Nummer 6".
McGoohan hatte Portmeirion allerdings bereits zuvor kennengelernt, bei der Produktion der Pilotfolge von "John Drake". Dort wurde die die Kulisse jedoch nur aus Kostengründen und aufgrund ihres mediterranen Einschlags genutzt, um einen italienischen Ort vorzugaukeln. Portmeirion war von dem Architekten Sir Bertram Clough Williams-Ellis (1883-1978), einem Autodidakten, innerhalb von 50 Jahren in einem Kraftakt errichtet worden. Der Künstler hatte über all die Jahre hinweg die Welt bereist, um Gebäude und Fassaden vor der Vernichtung zu retten, indem er sie an die Küste von Wales hatte transportieren lassen. Daraus entstand schließlich ein einzigartiges Gesamtkunstwerk aus unterschiedlichen Stilrichtungen und Epochen, dessen praktische Funktion eine Hotelanlage war und immer noch ist. Williams-Ellis, der vielleicht gar nicht so abgehoben war, wie man vermuten könnte, meinte zu seiner Schöpfung: "Ich wollte ein wirklich breites Interesse für solche Dinge wie Architektur, Landschaftsplanung, die Wirkung von Farben und für Gestaltung im allgemeinen erreichen."
Mit der nicht übermäßig rücksichtsvollen "Prisoner"-Filmcrew dürfte Williams-Ellis allerdings nicht so ganz zufrieden gewesen sein - unter anderem soll er nach den Drehtagen zurückgelassene Zigarettenstummel eigenhändig aufgesammelt haben. Doch über die Popularität, die der zuvor noch ziemlich unbekannte Ort durch die Serie erreichte, wird er sich wohl nicht beklagt haben. Auch heute noch ist Portmeirion eine Touristenattraktion, die natürlich auch stark von den Fans der Serie genutzt wird, die hier mit einschlägigen Souvenirs bestens versorgt werden. Einmal im Jahr findet dort eine "Prisoner"-Convention statt. Portmeirion diente inzwischen auch vielfach als Drehort für andere Produktionen, zum Beispiel 1976 für die Serie "Doctor Who".
Am Set von "Nummer 6"
Die Dreharbeiten in Portmeirion begannen geheimniskrämerisch im September 1966. Die Presse hatte keinen Zutritt. Zunächst drehte Don Chaffey in sechs intensiv genutzten Wochen die Außenaufnahmen für vier Folgen, deren Drehbücher bereits fertig waren, darunter auch die erste Episode. Dabei entstand viel Material, das für die weiteren 13 Folgen genutzt werden konnte. Danach drehte man nur noch sporadisch in Portmeirion, zum Schluß sogar überhaupt nicht mehr. In Chaffeys Folgen ist Portmeirion am häufigsten zu sehen.
McGoohan war im Guten wie im Schlechten wohl alles andere als ein Jedermann, doch er gefiel sich in dieser Rolle. Er mochte die einfachen Menschen am Set, in deren Gesellschaft er oft zu sehen war, und sorgte dafür, daß ihre Gagen und Löhne über dem damals üblichen Niveau lagen - und er nannte seine Firma Everyman Films. Auch Nummer 6 war für ihn ein Jedermann, gleichzeitig wollte er aber an seinem Sonderstatus nicht kratzen. Ein Drehbuch, in dem Nummer 6 den Flug der Vögel studierte, um daraus den Standort des "Village" zu ermitteln, lehnte er mit der Begründung ab: "Helden beobachten keine Vögel."
Ein Problem stellte der "Rover" dar, der bedrohliche weiße Ball (er wird zwar nur an einer einzigen Stelle des Originals so genannt, doch der Name hat sich durchgesetzt), für den die Serie berühmt ist. Ursprünglich hätte es ein Go-Kart-ähnliches Gefährt sein sollen, doch das gab den Geist auf und sah auch nicht sehr gefährlich aus. Als McGoohan und sein Produktionsmanager zufällig am Himmel einige Wetterballons erblickten, war die Idee eines weißen Ballons geboren. Doch die Crew benötigte eine Unzahl dieser Ballons, denn deren Material war alles andere als reißfest.
Als man im April 1967 die 13 Folgen abgeschlossen hatte, war die erste Staffel im Kasten. Eine dreimonatige Pause war geplant, bevor man die zweite und letzte Staffel mit weiteren 13 Folgen (die damals übliche Staffellänge) in Angriff nehmen wollte. Doch es gab Probleme: Das Budget war maßlos überzogen worden, während man dem Drehplan hoffnungslos hinterherhinkte. Nachdem selbst für den größten Optimisten feststand, daß es McGoohan niemals gelingen würde, die geplanten 26 Episoden zu produzieren, wurde die Entscheidung gefällt, "Nummer 6" bereits mit Episode 17 zu einem Abschluß zu bringen (mit 17 Folgen konnte Lew Grade die Serie in den USA gerade noch anbieten).
Markstein verläßt das Chaos
Doch George Markstein, die ordnende Kraft im Chaos, hatte genug von McGoohans One-man-Show. Inzwischen diktierte das Geschehen nur noch der Hauptdarsteller der Serie. Er arbeitete oft rund um die Uhr und mischte sich überall ein. Was er von sich selbst forderte, galt auch für die anderen. In der Folge "Pas de deux" - einer Art Kammerspiel zwischen Nummer 6 und Nummer 2 - wurde der Darsteller Leo McKern von McGoohan so sehr an den Rand der Erschöpfung getrieben, daß er einen Nervenzusammenbruch erlitt. Die Cutterin Noreen Ackland erzählte, daß McGoohan sie bei der Nachbearbeitung zwang, eine Szene wieder und wieder abzuspielen, bis sie schließlich in Tränen ausbrach. Sie fragte ihn, was er denn mit der Szene bezwecke, worauf er erwiderte, daß er es selbst noch nicht wisse und sie fortfahren solle, die Szene abzuspielen.
Als Markstein kündigte, folgten ihm auch andere Crew-Mitglieder - was auch deshalb nicht verwundert, da McGoohan zuvor bereits drei Regisseure gefeuert hatte. Auch der Schauspieler selbst entschwand vorübergehend, weil er ein Angebot aus Hollywood angenommen hatte (die Hauptrolle in "Eisstation Zebra", neben Rock Hudson). Als das angeschlagene Team im August die Dreharbeiten wieder aufnahm, war der Egomane noch nicht zurückgekehrt, und man mußte sich eine haarsträubende Story ausdenken, in der Nummer 6 in anderer Gestalt vorkommt. Nachdem er wieder am Set war, stellte sich heraus, daß McGoohan immer noch kein geeignetes Serienende gefunden hatte. Hochheilig mußte er Lew Grade versprechen, eine gediegene Abschlußfolge abzuliefern.
Die neuen Episoden gingen nun in eine völlig andere Richtung, als im Konzept vorgesehen war (eine spielte sogar im Wilden Westen). Der Abgang von Markstein machte sich in mehrerer Hinsicht schmerzlich bemerkbar. Die Zeit wurde immer knapper. Es war bereits Dezember, und die siebzehnte und letzte Folge mußte im Februar 1968 im englischen Sender ITV, in dem die Serie seit Oktober 1967 lief, ausgestrahlt werden. Lew Grade setzte McGoohan die Daumenschrauben an. Und dann endlich, an einem Wochenende in seiner Garderobe, schrieb McGoohan die Finalepisode, die nur er verfassen konnte, in einem 36stündigen Marathon. Sie heißt "Demaskierung" (Originaltitel: "Fall Out") und steht in einer engen Verbindung zur vorletzten Folge "Pas de Deux" (Originaltitel: "Once Upon A Time"), die bereits als sechste Folge gedreht worden war.
Die Produktionsreihenfolge unterschied sich nämlich von der der Ausstrahlung. Dies war nur möglich, weil die Folgen in sich abgeschlossen sind. Ein Reifeprozeß ist so natürlich nicht zu vermitteln. Markstein wäre eine inhaltliche Entwicklung viel lieber gewesen, auch um logische Brüche zu vermeiden. Doch vermutlich war das zu der Zeit nicht möglich, da es die Flexibilität beim Verkauf der Serie eingeschränkt hätte. Dies tut allerdings der hohen Qualität der einzelnen Folgen, auf die wir aus Platzgründen leider nicht näher eingehen können, keinen Abbruch.
Ein Ende im Wahnsinn, oder ...?
Normalerweise verraten wir in unseren Artikeln nicht, wer der "Täter" ist, doch dies ist ein Sonderfall, da wir sonst die Aufregung um die Serie nicht erklären könnten. In der letzten Folge erwirbt Nummer 6, nachdem er Ehrengast eines absurden Tribunals war, das in einem Tumult endete, das Recht, ein Individuum zu sein (nachdem er sich vorher stets dagegen gewehrt hatte, zur Nummer degradiert zu werden, und dennoch dem Zuschauer nie seinen Namen verriet), und darf dadurch zu Nummer 1 vordringen. Er läuft eine Wendeltreppe hoch und sieht dann einen weißen Kapuzenmann, der sich langsam zu ihm umdreht. Der geheimnisvolle Typ trägt eine Maske, die Nummer 6 ihm herunterreißt. Zum Vorschein kommt ein brabbelnder Affe. Als Nummer 6 erkennt, daß auch dies nur eine Maske ist, reißt er sie ab. Und was sieht er? Sein eigenes Gesicht, höhnisch lachend - oder ist es nur das geifernde Gebrabbel der Affenidentität? All dies geschieht in einer sehr kurzen Zeitspanne.
Nachdem Nummer 1 eine Steigleiter erklettert hat, hebt er mit einer Rakete ab, während es mit dem "Village" zu Ende zu gehen scheint - zumindest werden die Bewohner evakuiert. Nummer 6 entflieht mit einem Lastwagen, gefahren von dem dicken, zwergwüchsigen Butler, der oft in der Serie zu sehen ist. Er selbst befindet sich in einem großen Käfig, gemeinsam mit der nun mit ihm verbündeten Nummer 2 und einem jungen Revoluzzer. Ausgelassen tanzend kommen sie in London an. Man trennt sich. Nummer 6 erreicht in Begleitung des Butlers seine Wohnung. Dort steigt er in seinen Lotus Super 7, den man aus dem Vorspann kennt. Er wartet auf ihn, als ob nichts geschehen wäre. Der Butler hingegen geht zum Eingang. Von unsichtbarer Hand wird die Tür geöffnet. Ende. Der Zuschauer bleibt verwirrt zurück.
"Nummer 6" hatte die Briten in höchste Spannung versetzt. Die Erwartungshaltung an das Finale war riesig. Man kann sich vorstellen, wie das Ergebnis enttäuschte. Der Sturm der Entrüstung war sogar so groß, daß McGoohan laut eigener Aussage England fluchtartig verließ. Betont soll werden, daß dieses Finale zwar inzwischen legendär ist, doch "Nummer 6" wäre wohl auch ohne dieses Skandälchen zur Kultserie geworden. Ist die Abschlußfolge, die viele zeitgeistige Versatzstücke der 1960er aufweist, nun substanzloser Unsinn, ein Schnellschuß, geboren aus McGoohans Ratlosigkeit und Verzweiflung, wie er die Serie beenden sollte? Oder ist sie ein Meisterwerk der surrealen Komik? Darüber scheiden sich bis heute die Geister.
Laut McGoohan ist die letzte Folge eine Allegorie auf den Menschen. Wenn man danach Ausschau hält, entdeckt man, daß es die böse Seite in einem selbst ist, die man dauernd bekämpft. Er meint, daß eine Allegorie neue Bedeutungen gewinnt, wenn man sie ein zweites, drittes Mal betrachtet, durch die Erfahrungen, die man inzwischen gemacht hat. Und er fügt hinzu: "Sogar ich interpretiere die Episode immer wieder neu." Und: "Wen man ein Rätsel erklärt, ist es kein Rätsel mehr. Wenn man allerdings nach einer Erklärung verwirrter ist als zuvor, geht das Rätsel weiter." Das Ende interpretiert er als Anfang: Alles beginnt wieder von vorn, denn es gibt keine Freiheit. Jeder lebt in einer Art "Village" aus Zwängen und Regeln.
Zur Fortsetzung ...
Nummer 6
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Die Sprechblase
Dieser Artikel ist der Zeitschrift DIE SPRECHBLASE Nr. 229 entnommen. Weitere Informationen zu dieser wunderbaren Fachpublikation finden Sie auf der SPRECHBLASE-Website, wo Sie das Heft auch gleich abonnieren und/oder ältere Ausgaben bestellen können. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen!
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