Stories_So enttarnte ich Jerry Cotton

So enttarnte ich Jerry Cotton

Gestatten, Cotton, Jerry Cotton. G-Man aus Leidenschaft. Ich habe über 3000 Fälle gelöst - und wenn Sie mich noch nicht kennen, werden Sie mich bald kennenlernen.    10.10.2003

Das Telefon riß mich aus dem Schlaf. Wenn es zur Geisterstunde läutet, kann das nur zwei Dinge bedeuten: Entweder ist eine alte Freundin in die Stadt gekommen und kann es nicht erwarten, mir ihre Arme um den Hals zu schlingen, oder irgendwo in Downtown ist die Hölle ausgebrochen. Möglicherweise auch beides. Ich nahm den Hörer ab. "Was ist so verdammt wichtig, daß es nicht bis Sonnenaufgang warten kann?" meldete ich mich mit finsterer Stimme. Phil war dran. Also keine alte Freundin, sondern die Hölle; irgendwo zwischen Manhattan und New Jersey. Ich sah mich bereits im Wagen sitzen ...

Phil kam ohne Umschweife zur Sache: "Wir sind aufgeflogen, Jerry. Unsere Tarnung können wir vergessen." Ich brauchte erstmal ein paar Sekunden, um die Nachricht auf mich einwirken zu lassen. Das war ein harter Schlag. Ich wußte, daß Phil keinen dummen Scherz losließ, nicht in dieser Sache. Das FBI hatte fast 50 Jahre gebraucht, um unsere Tarnung wasserdicht zu machen. Daß mit einem Schlag alles vorbei sein sollte, konnte ich kaum glauben. Ich wollte es nicht glauben. Es steckte einfach zu viel Arbeit drin.

"Wir müssen reden", sagte ich. "Aber nicht am Telefon." Wenn unsere Tarnung nicht viel mehr wert war als ein verlorener Handschuh im Central Park, wurde möglicherweise auch das Telefon abgehört. "Wir treffen uns bei Lucky Moer-Rie", sagte ich. "In einer halben Stunde." Ich legte auf, griff mir die Autoschlüssel und machte mich auf den Weg. Es goß in Strömen, weshalb kaum Leute auf den Straßen waren. Bei diesem Sauwetter blieben selbst die Ratten in ihren Löchern. Trotzdem fuhr ich sicherheitshalber die Amsterdam Avenue in nördliche Richtung, umrundete den Central Park und nahm dann die Park Avenue Richtung Battery. Niemand folgte mir. Fat Lucky Moer-Rie hatte seinen China-Freßtempel schon geschlossen und erwartete mich in der Tür. "Hinterzimmer", sagte er nur und zerbröselte einen Glückskeks. Er warf einen flüchtigen Blick auf den kleinen Zettel, der sich darin befunden hatte, und zerknüllte ihn. "Schlechte Nachrichten?" fragte ich im Vorübergehen. "Kugeln sind härter als Konfuzius", antwortete er. Ich ging weiter. Manchmal zweifle ich daran, daß die Chinesen eines der ältesten Kulturvölker der Welt sind.

Phil saß mit ausgestreckten Beinen an einem Tisch; vor ihm lag ein Packen Papier. Ich setzte mich ihm gegenüber. "Wer?" fragte ich. Phil griff nach dem obersten Blatt und schob es in meine Richtung. "Ein gewisser Jakuba", antwortete er. "Friedrich Jakuba. Für uns ein völlig unbeschriebenes Blatt."

"Weiß Interpol mehr? Hat Echelon was über ihn?"

"Null", sagte Phil. "Aber er weiß praktisch alles über uns. 320 Seiten, Jerry. Alle unsere Einsätze. Ich weiß nicht wieso, aber dieser Typ kennt die ganze Wahrheit. Er hat alles aufgeschrieben."

Eine böse Sache. Nicht abschätzbar, welche Konsequenzen unsere Enttarnung haben würde. "Schlimm, daß wir die Guten sind", sagte Phil leise. "Ich hätte gute Lust, diesem Jakuba - was ist das überhaupt für ein Name? Polnisch? - anschaulich zu zeigen, was mir gerade durch den Kopf geht." Phil war ziemlich wütend. Ich schüttelte den Kopf. Wir brauchten einen Plan.

"Nicht hysterisch werden", sagte ich scharf und lehnte mich zurück. Vermutlich hatte es irgendwann so kommen müssen. Eine Tarnung ist eine Lüge, und Lügen haben ein Ablaufdatum. Immer. "Wir haben einen Fehler gemacht, Phil", sagte ich. "Wir haben uns verdammt sicher gefühlt und geglaubt, es würde immer so weitergehen. Das war ein Irrtum. Die Realität hat uns eingeholt." Phil schaute mich fragend an. "Du meinst, wir hätten schon viel früher etwas gegen die Deutschen unternehmen sollen?"

Gute Frage. Ich glaube, es war 1954, als die Krauts uns auf die Schliche kamen und der Verleger Gustav Lübbe damit begann, Tatsachenberichte über das FBI zu publizieren. Wir waren ziemlich geschockt, weil es irgendwo eine undichte Stelle von enormen Ausmaßen geben mußte. Edgar Hoover ließ sich allerdings nicht aus der Ruhe bringen und entwickelte eine Gegenstrategie. Als die ersten Briefe aus Deutschland kamen und um Auskünfte über den "G-Man Jerry Cotton" baten, ließ Hoover einfach antworten: "Mr. Cotton ist bei uns nicht zu erreichen." Hoover tat einfach so, als hätten Lübbe und seine Autoren uns gut erfunden. Auch als Hoover längst Geschichte war und dieser Lübbe seine Agentengeschichten bis nach China verkaufte, glaubte die Welt, daß es uns nur im Kopf von ein paar Autoren gab. Das hielt uns neugierige Frager dauerhaft vom Leib. Bis jetzt. Sollte das Manuskript tatsächlich publiziert werden, würde die Welt die Wahrheit über uns kennen.

"Ich denke, wir sollten uns damit abfinden, Phil", sagte ich. "Auch wenn wir uns jetzt auf eine völlig neue Situation einstellen müssen." Zugegeben, das war leichter gesagt als getan. Der Verlag von Lübbe hatte in den vergangenen 50 Jahren fast 3000 unserer Fälle publiziert. Einige davon waren so unglaublich, daß sich mit ihnen die Lüge, wir wären an einem Küchentisch im Ruhrgebiet des Nachkriegs-Deutschland erfunden worden, leicht aufrechterhalten ließ.

"Hat dieser Jakuba irgendwelche Beweise?" wollte ich wissen. Phil nickte. "Jede Menge. Und er fühlt sich ziemlich sicher, denn er gibt die Namen seiner Informanten offen preis. Wer über uns geschrieben hat, wie oft über uns geschrieben wurde. All die kleinen Details, die außer uns niemand kennen kann." Ich erinnerte mich. Als Lübbe in den 50ern meine Suche nach dem Gangsterchef öffentlich machte, zerbrachen wir ins lange den Kopf, woher der Autor seine Informationen bezog - erfolglos.

"Wir haben die undichte Stelle nie gefunden", gab ich zu bedenken. Hatten wir uns zu wenig Mühe gegeben? Bekamen wir jetzt die Rechnung für unsere Leichtfertigkeit? Sicher, es hatte oft Hinweise auf einen gewissen Delfried Kaufmann gegeben, doch die hatten wir für bewußt ausgestreute Gerüchte gehalten, weil wir diesen Kaufmann niemals ausforschen konnten. In den vergangenen Jahrzehnten waren wir dauernd unfaßbaren Gefahren ausgesetzt gewesen - und hatten überlebt, ohne bleibende Blessuren davonzutragen. "Vielleicht ist es an der Zeit, einen Gang zurückzuschalten", sinnierte ich.

"Unsinn", sagte Phil. "Schau uns doch an: wir sind immer noch so jung und frisch wie am Anfang. Warum sollten wir uns zur Ruhe setzen?" Er hatte recht: Echte G-Man gehen nicht in Pension. Echte G-Man werden bestenfalls in den Rücken geschossen, während sie mit irgendeinem Gesindel irgendeinen Großstadtboden aufwischen.

"Ist es nicht komisch, daß wir in den letzten 50 Jahren um keinen Tag älter geworden sind?" stellte ich die plötzlich aufgetauchte Gretchenfrage in den Raum. Phil schaute mich an; ein seltsames Funkeln war in seinen Augen. "Wie?" fragte er gedehnt. "Ich kann mich noch gut an deine Geburtstagsparty erinnern, voriges Jahr bei Fat Moer-Rie. Du konntest deine Finger kaum von dieser kleinen Blonden lassen, deren Lachen wie Hundegebell klang..."

Ich unterbrach ihn: "Ja, wir haben die Jahre gefeiert. Aber kommst du dir nicht auch älter vor?" Es gab zwar Tage, an denen fühlte ich mich so müde wie der Hudson River, aber das meinte ich nicht. Der Hudson hatte sich im Laufe der Jahre in eine lebensgefährliche Brühe verwandelt - ich hingegen sah immer noch aus wie an dem Tag, an dem ich meinen ersten Fall löste. Fat Lucky Moer-Rie kam ins Hinterzimmer, einen weiteren Glückskeks in der Hand.

"Fällt dir etwas an mir auf?" wollte ich wissen. Fat Lucky schüttelte den Kopf. Irgendwas stimmte hier nicht. Ich war weit über sechzig und sah aus wie George Nader im besten Alter. "Also gut, Leute", sagte ich und zog im Aufstehen die Waffe. "Ich weiß nicht, wer ihr seid, aber du bist sicher nicht Phil Decker und du nicht Fat Lucky Moer-Rie. Was, zum Teufel, ist hier los?"

"Jerry...", begann die Person, die sich als Phil ausgab. Ich winkte mit der Waffe und zielte auf den Mann. "Keine Beschwichtigungen. Was geschieht hier?" Aus Fat Lucky Moer-Ries Richtung kam ein schmatzendes Geräusch. Ich schaute zu ihm hinüber, aber er hatte sich bereits aus dem Staub gemacht. Dort, wo er gestanden hatte, lag ein einsamer Glückskeks auf dem Boden. "Was, zur Hölle..." begann Phil und zog ebenfalls seine Waffe. Ich ließ ihn gewähren. "Fat Lucky Moer-Rie ist die undichte Stelle", sagte er dann. Ich zertrat den Glückskeks und hob den zum Vorschein kommenden Zettel hoch. "Herzlichen Glückwunsch, Jerry Cotton", laß ich vor. "Anläßlich Deines 50jährigen Dienstjubiläums im kommenden Jahr widmet dir der Lübbe-Verlag dieses einzigartige Buch. Wir hoffen, es ist keine allzu große Überraschung für dich, daß es dich nicht wirklich gibt. Wir haben dich so gut erfunden, daß dich die halbe Welt für mindestens genauso wichtig für den Fortbestand der menschlichen Rasse hält wie Bruce Willis."

Plötzlich stand Fat Lucky Moer-Rie in der Tür, ein Tablett in Händen, auf der eine Flasche Champagner und drei Gläser standen. "Und?"

"Bis jetzt ist er ganz gut damit fertig geworden", antwortete Phil. Ich stand ratlos herum, während Fat Lucky den Korken knallen ließ und einschenkte. "Leider ist Gustav Lübbe seit acht Jahren nicht mehr unter uns", sagte er und reichte mir ein Glas. "Er hätte es sich nicht nehmen lassen, dir persönlich zu gratulieren." Ich kam mir vor wie in einem Spiegelkabinett. Getäuscht. Phil legte mir die Hand auf die Schulter. "Ich weiß, das ist jetzt eine ganz ungewohnte Situation für dich. Aber laß dir gesagt sein: Du bist unter Freunden." Fat Lucky Moer-Rie lachte dröhnend, dann griff er mit der rechten Hand in seinen Nacken und zog die Maske vom Kopf. "Ich bin wirklich die undichte Stelle", sagte er grinsend. "Gestatten: Friedrich Jakub. Kein stocksteifer Pole." Er hielt mir die Hand hin. "Weißt Du, Jerry, wärst du echt, dann wärst du mindestens schon dreitausendmal gestorben. So aber haben wir immer dafür gesorgt, daß die Kugeln einen weiten Bogen um dich machen."

Ich mußte mich setzen. "Und was soll das ganze Theater? Nicht, daß ich etwas davon glauben würde." Fat Lucky Moer-Rie/Friedrich Jakub lachte abermals dröhnend und nahm eines der auf dem Tisch liegenden Blätter. "Mach dir keine Sorgen, Jeremias. Du wirst nicht in Pension geschickt. Es ist nur an der Zeit, daß deine Fans ein wenig mehr über dich erfahren. Das ist alles. Wenn wir nach unserem kleinen Umtrunk diesen Raum verlassen, wird alles so sein wie zuvor..."

"...und ich werde mich an nichts erinnern können?" fragte ich, während das Telefon zu läuten begann. Wenn zur Geisterstunde jemand anruft, kann das nur zwei Dinge bedeuten. Entweder ist eine alte Freundin in die Stadt gekommen und kann es nicht erwarten, mir ihre Arme um den Hals zu schlingen, oder irgendwo in Downtown ist die Hölle ausgebrochen. Möglicherweise auch beides. Ich nahm den Hörer ab. "Was ist so verdammt wichtig, daß es nicht bis Sonnenaufgang warten kann?" meldete ich mich mit finsterer Stimme. "Hallo, G-Man", kam die Antwort. "Ich bin eben angekommen und dachte mir, es wäre eine gute Idee, dich heftig zu umarmen... Du antwortest ja gar nicht. Alles in Ordnung?"

Ich schaute mich im Zimmer um. Alle Dinge waren noch an ihrem Platz. "Alles OK, Baby", sagte ich. "Ich hatte bloß einen schlimmen Alptraum."

Chris Haderer

Friedrich Jakuba - G-Man Jerry Cotton

ØØØ 1/2

Nichts als Wahrheit und Legenden


Gustav Lübbe Verlag (Bergisch Gladbach 2003)

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