Stories_Rokko´s Adventures im EVOLVER #48
Unwirkliche Wirklichkeiten
Wissenssoziologische Annäherungen an den Begriff der Verschwörungstheorie: Rokko-Autor Daniel Krčál im Gespräch mit Andreas Anton.
29.04.2013
Rokko´s Adventures ist - so steht es im Impressum - eine "unabhängige, überparteiliche sowie übermenschliche Publikation" und "setzt sich mit Leben, Kunst, Musik und Literatur auseinander". Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) in regelmäßigen Abständen ausgewählte Beiträge.
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Obwohl Verschwörungstheorien virulent wie nie zu sein scheinen, gibt es keinen dahingehenden zufriedenstellenden wissenschaftlichen Diskurs. Dabei täten Präzisierung und Erarbeitung eines begrifflichen Instrumentariums not. Einen möglicherweise wegweisenden Beitrag hierzu hat Andreas Anton in seinem - auf seiner Magisterarbeit aufbauenden - Buch "Unwirkliche Wirklichkeiten. Zur Wissensoziologie von Verschwörungstheorien" (Logos-Verlag, 2011) anzubieten.
Daniel Krčál: Sie attestieren Verschwörungstheorien ein enormes Potential, im Guten wie im Schlechten. Was genau meinen Sie damit?
Andreas Anton: Verschwörungstheorien können einerseits als Rechtfertigungsstrategien für diverse Herrschafts-, Unterdrückungs- oder Vernichtungsmaßnahmen dienen. Sie können Ressentiments schüren, falsche Vorstellung über bestimmte Ereignisse oder Entwicklungen erzeugen und politisch extreme Meinungen legitimieren. Ihre Attraktivität besteht oftmals auch darin, daß sie einfache Lösungen für komplexe Problemlagen bieten. Andererseits können sie auch zur Aufdeckung tatsächlicher konspirativer Strukturen dienen, Machtmißbrauch oder Betrug entlarven, Mißstände erhellen, auf Manipulationen oder Korruption hinweisen. Sie sind, sofern sie ein Mindestmaß an Plausibilität erfüllen, zunächst nicht mehr oder weniger "falsch" als andere politische Theorien.
DK: Hat man es bei Verschwörungstheorien mit einer historisch wiederkehrenden Konstante zu tun?
AA: Ja. Dafür gibt es auch einen trivialen Grund: die Existenz realer Verschwörungen. Die konkreten Ausprägungen verschwörungstheoretischer Deutungen hängen dabei stark von den jeweiligen historisch-sozialen Kontexten ab. Dessen ungeachtet weisen Verschwörungstheorien meiner Meinung nach auf der strukturellen Ebene aber auch gleichbleibende Merkmale und Funktionen auf. Verschwörungstheorien unterliegen mit Sicherheit auch Konjunkturen, die mit historisch wichtigen Ereignissen und Entwicklungen zusammenhängen, insgesamt handelt es sich jedoch um ein Phänomen mit einem hohen Maß an historischer Kontinuität.
DK: Hat das Internet zu einer signifikanten Vermehrung von Verschwörungstheorien geführt?
AA: Intuitiv würden viele diese Frage wahrscheinlich mit "Ja" beantworten, doch könnte es sich bei der absoluten Zunahme verschwörungstheoretischer Kommunikation im Internet lediglich um eine mediale Verschiebung handeln. Was früher über Flugblätter verbreitet oder an Stammtischen diskutiert worden ist, findet sich heute im Internet. Um von einer Zunahme sprechen zu können, müßte man Verschwörungstheorie ja immer im auch Verhältnis zur Gesamtkommunikation sehen, deshalb bin ich mit derartigen Aussagen immer vorsichtig.
DK: Es gibt bislang keine wirklich zufriedenstellende soziologische Theorie zu Verschwörungstheorien. Welche Gründe gibt es dafür?
AA: Das stimmt. Verschwörungstheorien scheinen durch ihren als unseriös oder fragwürdig eingestuften Charakter als Objekt wissenschaftlicher Forschung gewisse Berührungsängste auszulösen. Das hängt wohl mit der in der Wissenschaft immer wieder zu beobachtenden Sorge zusammen, daß die Beschäftigung mit eher abseitigen Themen der wissenschaftlichen Reputation schaden könnte. Verschwörungstheorien scheinen sich an der Grenze dessen zu bewegen, was vom wissenschaftlichen Diskurs akzeptiert oder eben als unwissenschaftlich stigmatisiert wird. Die wenigen wissenschaftlichen Arbeiten, die sich explizit mit Verschwörungstheorien beschäftigen, sind meistens um historisch-deskriptive, wirkungsorientierte Ansätze bemüht. Diese Perspektive ist wichtig. Will man aber ein tieferes Verständnis verschwörungstheoretischer Deutungen entwickeln, sollte man sich dem Phänomen auf der Strukturebene annähern, erklären, wie sie aufgebaut, was ihre psychosozialen Funktionen und was ihre möglichen Ursachen sind - jenseits ihrer konkreten Inhalte.
DK: Was wären da die wichtigsten Merkmale ihres Vorschlags zu einer wissenssoziologischen Theorie verschwörungstheoretischer Deutungen?
AA: Verschwörungstheorien sind aus meiner Sicht eine spezielle Form sozialen Wissens, vergleichbar mit sozialen Deutungsmustern, die sich von anderen Wissensformen wie Mythen, Ideologien, Alltagstheorien oder bloßen Meinungen durch spezifische Funktionen und Binnenmerkmale unterscheiden lassen. Die Hauptfunktionen wären die Reduktion von Komplexität, die Antizipation von Situationsentwicklungen, die Verständigung über Grenzsituationen und die Erzeugung sozialer Gemeinschaft. Insgesamt dienen Verschwörungstheorien zur Erzeugung eines spezifischen Sinns, der die Integration bestimmter Ereignisse oder Entwicklungen in bestehende Weltbilder, Erklärungsmodelle oder Sinngefüge ermöglicht.
DK: Müssen Verschwörungstheorien zwangsläufig immer nur ein Gegenmodell zu einer offiziellen Wirklichkeit sein - oder können sie auch von offizieller Seite konstruiert oder gar instrumentalisiert werden?
AA: Ich habe in meiner Arbeit zwischen orthodoxen, also gesellschaftlich anerkannten, und heterodoxen, gesellschaftlich nicht anerkannten, Verschwörungstheorien unterschieden; das heißt, Verschwörungstheorien müssen nicht zwangsläufig in Opposition zu einem dominierenden Erklärungsmodell stehen, da sie selbst ein solches sein können. In dieser Logik könnte man in etwa die offizielle Erklärung der Anschläge vom 11. September als orthodoxe Verschwörungstheorie bezeichnen, da von einer Verschwörung islamistischer Terroristen ausgegangen wird, die von einer Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert wird.
DK: Sie zeigen auf, daß es letztendlich um gesellschaftliche Diskurse geht, in denen ein Kampf um Deutungsmacht stattfindet.
AA: Diskurse sind immer ganz eng mit Machtstrukturen verwoben. Diese wiederum spielen eine entscheidende Rolle bei der Frage, was gesellschaftlich als "wirklich" gilt oder nicht. Sie produzieren bestimmte Wirklichkeitsordnungen und verteidigen sie gegen Angriffe von außen. Verschwörungstheorien sind ein besonders schönes Beispiel, um diskursive Kämpfe um Deutungsmacht zu analysieren, da sie ja in vielen Fällen die etablierten Deutungsinstanzen radikal in Frage stellen und herausfordern.
DK: Sie haben zum Diskurs rund um 9/11 herausgefunden, daß seitens der Vertreter orthodoxen Wissens nicht sehr fair und sachlich argumentiert wird. Hat Sie überrascht, das so deutlich vorzufinden?
AA: Ja, das hat mich in der Tat überrascht. Die verschwörungstheoretischen Deutungen wurden in der Regel von vornherein als irrational, absurd und paranoid abgetan, ihre Vertreter diskreditiert und delegitimiert und ihre Argumente kaum oder gar nicht aufgegriffen und sachlich widerlegt. Mein Eindruck ist, daß eine solche Herangehensweise aber genau das Gegenteil dessen bewirkt, was man damit bezweckt: Die Verschwörungstheorien gewinnen an Attraktivität.
DK: Abseits vom soziologischen Ansatz: Eine wirklich umfassende Theorie über Verschwörungstheorien müßte wohl auch interdisziplinär arbeiten?
AA: Das ist richtig. Wegen der Komplexität des Phänomens kommt man gar nicht umhin, sich der Erkenntnisse und Methoden verschiedener Disziplinen zu bedienen. Dabei wären neben der Soziologie vor allem die Geschichtswissenschaft, die Anthropologie, die Psychologie, die Politikwissenschaft und die Philosophie zu nennen.
DK: Selbst wenn es gelänge, ein befriedigendes akademisches Modell zu Verschwörungstheorien zu entwickeln, kann die von Ihnen beschriebene Kluft zwischen heterodoxem und orthodoxem Wissen jemals überwunden werden?
AA: Nein, solange es Gesellschaften gibt, wird es immer dominierende und abweichende Wissensbestände geben, es wird immer Kämpfe um Deutungsmacht und Wahrheitsansprüche geben. Diese Kämpfe machen einen erheblichen Teil der dynamischen Entwicklung von Gesellschaften aus. Die Wissenschaft, namentlich die Soziologie, kann nur versuchen, diese Prozesse möglichst gut zu verstehen und zu beschreiben. Die Überwindung der Kluft zwischen orthodoxem und heterodoxem Wissen käme einer gleichgeschalteten Gesellschaft gleich. Das kann nicht das Ziel sein.
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