Stories_Rokko´s Adventures im EVOLVER #41

Gegen Mutter, Migräne und Magersucht

Klaus Lemke ist ein radikaler Geselle im Filmgeschäft - und das seit Jahrzehnten. Der 1940er-Jahrgang verkehrte mit Andreas Baader, Jörg Fauser und auch lebendigen Typen wie Rocko Schamoni. Seine Filme entstehen ohne Förderung und ohne Drehbuch, dafür mit Laien an wirklichen Orten. Er zeigt die Szene, das Milieu, echte Typen, entdeckt die schönsten Flecken dort, wo andere gar nicht hinsehen. Ein Gespräch mit dem unermüdlichen Dirigenten der Straße.    12.11.2012

Rokko´s Adventures ist - so steht es im Impressum - eine "unabhängige, überparteiliche sowie übermenschliche Publikation" und "setzt sich mit Leben, Kunst, Musik und Literatur auseinander". Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) in regelmäßigen Abständen ausgewählte Beiträge.


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Die Kappe tief ins Gesicht gezogen, ein weißes, am Kragen angerissenes Shirt und Blue Jeans: so sitzt Klaus Lemke im Fauteuil eines Zimmers im achten Stock des Hilton, das ausgestattet ist mit abgetretenem Teppichboden und Vorhängen, die wie Tapeten aus den 1970er Jahren wirken. Das Filmfestival Viennale hat ihm ein Special gewidmet - Programmtitel: "Die Wiedergeburt des deutschen Films."

Mangelndes Selbstvertrauen ist keine von Lemkes Schwächen. Er steht auf und streckt mir die Hand entgegen. "Hallo, Klaus", strömt das coole Timbre aus dem Mund - starkes Lächeln, große Zähne - und erklärt das Du-Wort zur Sache. "Hast du den Film schon gesehen?" fragt er und gibt mir eine selbstgebrannte DVD von "Dancing With Devils" in die Hand. "Nein? Dann nimm ihn. Ist ein Geschenk." Seine Bewegungen sind schnell, sein Geist frisch. Der 70jährige Jungspund existiert, wie vielleicht auch Iggy Pop oder William Burroughs, außerhalb des gängigen Alterssystems. Er zuckt nur mit den Schultern: "It´s always the same fucking day" - heißt: Wer das täglich salutierende Murmeltier einmal durchschaut hat, muß ihm nur noch beibringen, dem Herrchen nicht ans Bein zu pissen. Und so folgt Lemke konsequent seinen eigenen Dämonen und bannt deren Spuren auf Filmmaterial. Er selbst nennt das die "Klaus Lemke Filmproduktion": "Die KLF ist ein deutsches Traditionsunternehmen wie Porsche. Beide Unternehmen nehmen keine staatlichen Subventionen."

Der Mann aus Düsseldorf

Aufgewachsen ist er in Düsseldorf, jener Stadt, wo das Umfeld um den Ratinger Hof ab Mitte der 1970er eine deutsche Version des Punk hervorbrachte. Lemke war nicht dabei. Nicht, weil er zu jung war, sondern längst schon woanders: "In Düsseldorf gab es schon immer ein bißchen Dada und Max Ernst, aber davon hab´ ich gar nichts mitgekriegt. Ich hab´ mich gleich nach dem Abitur in eine Schauspielerin verliebt - seitdem engagier´ ich auch keine Schauspieler mehr - und bin mit der einfach durch die Gegend gezogen, von Theater zu Theater. Ich wollte dann auch selbst ein Theater machen, das ist aber mißglückt. Und dann hab ich langsam Filme gemacht, aus Alkoholismus. Und das hat sich nie geändert. Die Kombination Film und Alkohol ist das Beste, was es gibt." Das Trinken beibehalten, bis heute? "Ja, absolut! Und Leute, die das nicht machen, haben nicht alle Tassen im Schrank."
Lemke landete in München und wohnte, bevor die Bomben hochgingen, mit Andreas Baader zusammen. "Baader wollte nur zum Film! Aber er hatte so einen merkwürdigen Akzent. Baader war dem Wahnsinn hinterher, weil weder Fassbinder noch ich ihn genommen haben. Das ist eigentlich traurig, weil er viel besser war als das meiste, was wir damals hatten. Aber wir konnten beide nicht mit seiner Sprache ..." sagt Lemke und redet über den damaligen Staatsfeind Nummer eins wie über jeden anderen verfehlten Schauspieler. "Baader war ein wirklicher Abenteurer, ihm ging es nur um Autos. Nur um Autos und Schlampen. Er ist im offenen BMW gefahren, auch, als er schon gesucht wurde. Aber jetzt kommt das Ding: Als er mit offenem Auto rumfuhr, lagen auf dem Nebensitz ein Tennisschläger und eine Tennistasche - natürlich gestohlen. Ein Polizist sieht das und sagt: 'Nein, das kann doch kein Terrorist sein, Terroristen spielen kein Tennis.' So war die Welt damals!" lacht Lemke, der seinen eigenen Fühlern vertraut, um neue Charaktere zu finden.

Schauspielerinnen wie Iris Berben oder Dolly Dollar haben ihm einen großen Teil ihres Ruhmes zu verdanken - sie und andere entdeckte er auf der Straße, im Café, beim Einkaufen. Seine Kopfbedeckung trägt Lemke nicht ohne Grund so tief: "So kann ich dich beobachten, ohne daß du was merkst. Das ist essentiell!" Wer allerdings genau unter Lemkes Käppchen lugt, kann es erspähen: Wenn er sich konzentriert, schließt er die Augen.
Hat er die richtigen Leute beieinander, geht es ans Eingemachte. Seine Filme dreht er mit seinem eigenen Geld, sie kosten 60- bis 70.000 Euro, und dann "verkauf´ ich sie ans Fernsehen, sagen wir für 100.000. Und so muß ich nicht alle Filme zu Ende drehen. Ich bin sehr stolz, daß ich mir das leisten kann, einen Film wegzuwerfen. Es ist kreativ, sich auf seine Fehler zu verlassen. Und es ist auch kreativ, morgens aufzuwachen und nicht zu wissen, wie man seine Miete bezahlt. Die meisten Leute, die in meinem Gewerbe arbeiten, wachen morgens auf und denken drüber nach, wie sie beim Weinberg in der Toskana noch ein paar Meter dazukaufen können. Und das zahlt der Staat, die EU, der Steuerzahler - und die finden das vollkommen normal. Das führt zu diesem katastrophalen Zustand, in dem wir leben. Die Filme sind staatlich verordneter Dreck."
Lemke hat diese Durchschnittskost satt, die einem durch jede kulturelle Ritze, vom Staat finanziert, entgegenkriecht. Er gehört zur Arbeiterklasse, ist kein Hirnwichser, denkt nicht darüber nach, wem er mit welcher Meldung auf den Schlips treten könnte, sondern sagt seine Meinung, ohne vorher strategisch abzuwägen, ob er nicht vielleicht doch sein Maul halten sollte, weil er ja noch irgendwann mit dem Freund vom Freund von Graf Bombsti zusammenarbeiten könnte. Scheiß die Wand an, Lemke fordert jeden Kasperl auf, für seine Aktionen geradezustehen, Verantwortung zu übernehmen - und setzt darin großes Potential.

"Wenn man über Nacht jegliche Förderung aus Steuermitteln in Deutschland abschaffen würde, wären wir innerhalb von zwei Jahren das kreativste Land in Europa und eine echte Konkurrenz zu Hollywood. Unserer Jugend und uns selbst würde es wesentlich besser gehen, wenn endlich diese Schweineförderung für alles aufhören würde und wir uns nicht wie Idioten vorkommen müßten, die wir auch wirklich sind." Lemke wird immer lauter. Erinnerungen steigen hoch. Auch er ging einmal künstlerische Kompromisse ein, etwa beim Film "Die Ratte" (1993): da mischten sich die Geldgeber zu sehr ein. "Man muß Fehler machen und auf die Fresse kriegen. Sonst könnte ich ja darüber gar nicht so reden. Deswegen halte ich Film auch für den einzig letzten Jungensport, wo es vielleicht möglich ist, noch auszubrechen aus dieser verwichsten Welt, in der wir hoffnungslos dahinvegetieren."
Dazu gehört es allerdings, die Zügel selbst in die Hand zu nehmen und nicht darauf zu warten, daß einem irgendetwas zufliegt. "In England hat man die Förderung abgeschafft, weil man gemerkt hat, daß das zu nichts führt. Und wo ist lebendiges Theater? In London! Da müssen die Schauspieler ihr Geld durch Arbeit verdienen. Und wenn sie´s nicht verdienen, dann war das Stück falsch und sie können nach Hause gehen. Dann muß man auch verantwortlich sein für das Geld, das man ausgibt! Das muß man seiner Oma klauen, das Häuschen verkaufen, Risiko eingehen - was meinst du, wie gut man dann umgeht mit Geld?! Dann ist eine Flasche Bier plötzlich wieder was wert. Wir sind total am Ende, es ist vorbei. Die Literatur ist auch nicht viel besser. Die Literatur in Deutschland ist Mutter, Migräne, Magersucht. Irgendsoein Konglomerat von bekloppten Studentinnen, die da falsche Bücher gelesen haben. Bei uns wird die Kultur vom Staat bezahlt, und der Eingriff in unsere Köpfe ist gigantisch. Nicht, daß der Staat was Böses ist: der kann gar nicht anders, der muß so handeln - aber wir sind Marionetten und denken alle gleich. Deswegen gefällt mir das Wort 'Adventures'. 'Adventures' kann doch nur heißen, daß man sich ein wenig befreit von dem, wie wir verwaltet werden in unseren Köpfen", sagt Klaus Lemke und tippt mit seinem Zeigefinger auf das Cover der letzten Ausgabe.
Diese Gehirnwäsche muß erst sichtbar gemacht werden - und zwar von unten, nicht von oben, über Kanäle, die nicht schon versaut und vereinnahmt sind. Früher war es einfacher, den Feind zu lokalisieren: die deutsche Elite, die im Krieg aufgestiegen war und auch nach 1945 ihre Positionen beibehalten hat; die ganzen Schweinereien, die da nicht mal gut versteckt abliefen; und oft brauchte man gar nicht so weit zu gehen: die Eltern, die stillgestanden und geschwiegen hatten - also man versteht schon, warum dann plötzlich Häuser gebrannt haben. "Das ganze Ding entstand daraus, daß unsere Eltern wirklich sehr lange nicht darüber reden konnten, was sie angestellt hatten. Dann kam das raus, und wir sahen plötzlich, was sie gemacht hatten. Heute versteht man so langsam, wie das gekommen ist. Diese sechs Millionen. Und vierzig Millionen im Krieg. Und plötzlich kam der Haß auf unsere Eltern."

 
Schmutzige Gegenwart

 
Ein zweiter Brennpunkt war das paradoxe Verhältnis zu Amerika, den Filmen aus USA und dieser coolen, nicht faßbaren Ami-Kultur mit groben Deutungsunterschieden. Am liebsten hätte Lemkes Generation wohl gleichzeitig in Vietnam herumgeballert und gegen den Krieg demonstriert. Da man sich scheute, die eigenen Eltern zu bekämpfen, wurde eine Art Ersatzkrieg gegen Amerika geführt. Die Geschichte zeigt, daß die einen dann Gebäude in die Luft sprengen, die anderen in abgeänderten Formaten operieren. Ob die Historie anders verlaufen wäre, hätte Lemke Baader ein Ventil im Film gegeben? "Nein, dann wären andere gekommen. Baader war nur der extremste Auto- und Schlampen-Freak. Als wir Geld hatten, ging es darum, eine neue Corvette gegen die Wand zu fahren, sodaß sie kaputt ist. Das war das Ding damals. Als alle schwul waren, kam Arschficken dazu, dann hat man AIDS gekriegt. Aber das fand man geil, daß man dieses Risiko einging. Wenn man dann so lebt wie Baader, wird der Druck immer größer, aber dann kann man nicht mehr aufhören und muß das bis zum Tod machen. Immer weitermachen, immer weitermachen, immer sinnlos weitermachen. So sind amerikanische Filme, so ist das Leben überhaupt: Ab einem gewissen Punkt kann man nur noch weitermachen. So wie ich mit dem Film. Was soll ich denn jetzt noch machen? Heiraten?!"
Soweit ließ es Lemke nie kommen, aber Journalismus wäre beinahe ein zweites fixes Standbein geworden. Er schrieb unter anderem für die "Bunte" und die "Süddeutsche Zeitung". "Ich dachte, als Journalist würde man an Mädchen rankommen - das ist ein Fehler, wie du sicher auch festgestellt hast. Und später hab´ ich gedacht, mit Film muß es dann wirklich klappen, aber das klappt auch nicht. Es ist ziemlich derselbe Beruf, was das angeht. Aber beim Film bin ich geblieben, weil ich auch sonst nichts anderes zu tun hab´", sagt Lemke und nippt an seiner Tasse Kaffee, während er einen kurzen Blick aus dem Hotelfenster über Wien wirft. Draußen schüttet es und ist kalt. "Wolf Wondratscheck, einer meiner besten Freunde, lebt und schreibt in Wien. Und immer, wenn er nach München kommt, erzählt er mir den neuesten Klatsch aus Wien, der also wirklich krimineller ist als der Klatsch aus München. Das gefällt mir sehr gut an Wien. Wenn man hier mit dem Taxi ankommt an einem Tag wie heute, wo alles grau ist - das hat genau die Atmosphäre von Paris. Das kann man von München nicht sagen. Was mir gefällt, ist diese absolute Bösartigkeit, das ist wirklich etwas Tolles, einmalig im deutschsprachigen Raum und vielleicht auch die letzte Rettung, die wir einmal haben werden: daß hinter all diesem Quatsch, der aus uns gemacht wurde in den letzten 50 Jahren, daß dahinter dennoch so etwas steht wie diese Wiener Bösartigkeit; oder in Hamburg: diese calvinistische Besessenheit, daß es nur dieses eine Leben gibt und keine Verzeihung, keine Vergebung. Und wenn es einem hier nicht gutgeht, in diesem Leben, dann mag einen der liebe Gott auch nicht; und das dritte, was es noch gibt, ist München mit seiner barocken Energie, sich durch Ficken irgendwie freizumachen. Das sind die drei Sachen. Der Rest ist ziemlicher Schrott - bis auf die Autos, die wir bauen, und die hübschen Mädchen. Aber dahinter ist dann bald auch gar nichts mehr."

 
Nächster Film

Der Lemkesche Weg aus dem trostlosen Sumpf made in Germany führt über laufende Bilder: "48 Stunden bis Acapulco" (1967) ist ein Platzhalter für das, wonach wir alle suchen. Zu der Zeit wußte er gar nicht so genau, wo denn Acapulco überhaupt liegt, aber nichts könnte in diesem Zusammenhang unbedeutender sein: Die Sehnsucht bleibt, wird sogar stärker. Doch nach all den Drogen, dem Alkohol und den Exzessen kam Anfang der 1970er ein erstes Tief. Das Filmemachen erreichte nie die Kraft eines Mick Jagger, den Lemke hier als Vergleich heranzieht. Die Klarheit, Direktheit und Authentizität seines Ausdrucks und seiner Sprache forderte er ein - vergebens.

Mit dieser Erkenntnis im Kopf, die er wiederum von Substanzen aller Art anheizen und rotieren ließ, ging Lemke nach Hamburg. Er ließ sich treiben, die Gedanken kreisen - und lernte - zufälligerweise - genau die Sprache kennen, die ihn dann für die nächsten Jahrzehnte beim Film halten sollte: jene von unten, die ihren Krieg noch nicht verloren hatte. Das Ergebnis: Lemkes "Rocker" von 1972, der heute als Klassiker gilt - allerdings ohne den Schmock des gewöhnlichen Kanons. Darin hat er den Hamburger Kiez und seine Protagonisten so dargestellt, wie es sonst keiner konnte. Und zwar mit echten Bikern, echten Rockern, echten Zuhältern, echten Huren. "Es gibt vielleicht fünf deutsche Filme seit dem Krieg, die irgendwas taugen - und dazu gehört 'Rocker'. Aber auch die vier anderen wären besser geworden, wenn da kein staatliches Geld reingeflossen wäre." Bei Lemke sind oft die scheinbar Schwachen die wirklich Starken. In "Rocker" gibt es nur einen, dem der Filmtitel tatsächlich gehört - den kleinen Mark, der gerade dabei ist, das Saufen zu erlernen und mit dem man eine Filmlänge durch die Welt schreiten kann. Durch die groben Fasern aller Charaktere schimmert vor allem ein berührendes Gefühl, das weit über die Kinoleinwand hinausgeht: einer der schönsten und herzlichsten Filme überhaupt. Auch Frauen sind den Männern in Lemkes Werken meist überlegen. Essentiell beim Filmemachen: ein strenger Bullshit-Detektor. Was ihm nicht gefällt, wirft er weg und erklärt die Sache für beendet. "Aber wenn es mir wirklich gefällt, dann gefällt es garantiert auch vielen anderen, besonders den jungen Leuten."

Was auch daran liegt, daß er immer mit jungen Leuten zusammenarbeitet. Das hindert ihn erstens daran, den Bezug zur Gegenwart zu verlieren, und zweitens kann er bei ihnen seine Tarifvorstellungen durchsetzen. "Jeder bei meinen Filmen bekommt 50 Euro am Tag, egal, was der macht, und das kann man nur mit jungen Leuten machen. Etwa ab 26 wissen die Leute, was sie im Leben wollen, und das ist nicht von Lemke 50 Euro kriegen und sich dafür auch noch tyrannisieren lassen", schmunzelt er. "Nein, der eigentliche Grund ist der: Wir experimentieren alle mit ganz vielen, gegensätzlichen Vorstellungen mit uns selbst, daß wir das sein möchten und das, ein bißchen besser aussehen, ein längeres Ding haben. Und solange man jung ist, prallen die Sachen richtig hart aufeinander. Dann fängt man langsam an, Kompromisse mit sich zu schließen, da ist das Schlachtfeld in einem selbst nicht mehr so hart. Meine Filme sind mit Leuten, bei denen die Gegensätze noch unbarmherzig aufeinanderprallen." Um es mit anderen Worten zu sagen: "Der Sex ist total unvermittelt. Die Geschichten sind bombe, aber hart. Die Drogen sind echt. Die Fehler sind echt und nicht veredelt. Die Sprache ist echt."

Die Sprache ist Lemkes heiliger Gral. "Ich bin die letzte Hoffnung für die deutsche Sprache. Wir sind vor ungefähr 70 Jahren abgehängt worden, an dem Tag, als amerikanische Filme deutsch synchronisiert wurden - nur damit sie deutscher klingen. Das ist in allen faschistischen Ländern passiert: Italien, Deutschland, Österreich und Spanien. Die mußten amerikanische Filme importieren und haben sie mit ihrer Synchronisation vollkommen kaputtgemacht. Wir haben verloren, natürliche Gefühle mitzukriegen. Die Welt stellt sich nicht dar durch Bilder und wie man aussieht, sondern wie man redet. Der Subtext, den man vermittelt, wenn man redet. Bei uns gibt es nur diese Goethe-Sprache, Kasernenhochdeutsch, alles verfeinert" - und Lemke muß aufpassen, daß er nicht auf den Teppichboden kotzt, während er die Zustände beschreibt. Wen wundert´s? Sieht man sich einen Film im englischen Original an und zum Vergleich in der deutschen Synchronisation, so sind es oft nicht nur die Übersetzungsmängel, die stören, sondern auch die Sprecherwahl: das geniale Nuscheln, das einen Charakter erst ausmacht, oder die hörbare schiefe Zigarette im rechten Mundwinkel, werden im Deutschen von scheinbaren Nachrichtensprechern begradigt und vernichtet. Auf die Frage, wie er Jörg Fausers Umgang mit der deutschen Sprache findet, der die Stimme der Straße aufsog und in Buchform ausspie, schnippt Lemke mit den Fingern: "Wunderbar! Ein guter Freund von mir. Das war einer der wenigen, der dem Deutschen einen Ton gegeben habt."
Charaktere mit einer ebensolchen Kraft sucht er, wenn er durch die Straßen zieht und beobachtet - unter dem Schutz seiner Kappe. "Ich wähl´ meine Leute aus, weil sie so sprechen, über die Sprache noch den Subtext reinjagen. Und daraus entwickelt sich eine Art Geschichte, die ich natürlich pausenlos korrigiere. Aber ich will nicht wissen, wie der Film aussieht, ich will mit den Akteuren den Film erleben." Für Lemke ist das Zeitalter der Drehbücher und Schauspieler - abseits von Theaterbühnen - vorbei, es sei denn, man will das Publikum langweilen. "Meine Schauspieler haben alle und keine Freiheiten. Ich saug´ die schon kräftig aus." Am Set gibt es oft Troubles, auch glückt ihm nicht jede Castingwahl, aber in diesem Fall "bin ich wirklich sehr bösartig". Und wenn Lemke fühlt, daß nichts mehr zu holen ist, wird das Material auf der Stelle vernichtet. 30.000 Euro gefressen, nächster Film.

 
Stadtwolf im Süden

Lemke pendelt zwischen München und Hamburg. Sein Lebensmittelpunkt ist Weißwurst-City, wo er in einer Bude ohne Warmwasser haust, die er absichtlich versaut hat, um zu vermeiden, daß jemals eine Frau bei ihm bleibt. Dann wär´ es vorbei. Was ihn an München hält? "Wenn ich länger in Hamburg wäre, dann würd´ ich das so nicht mehr sehen", sagt er in Bezug auf "Rocker", bei dem klar wurde, daß es jemanden von außen gebraucht hat, um das Herz des Hamburger Kiez zu zeigen. "Das kann man nur sehen, wenn man da nicht wohnt. Die Leute fragen mich immer: 'Sag mal, Lemke, du Wichser, was machst du eigentlich in dieser spießigen Stadt München?' Darauf hab´ ich nie eine Antwort gehabt. Und dann hab´ ich nach langer Zeit wieder einmal einen Film in München gedreht, 'Schmutziger Süden' (2010), sozusagen eine Antwort auf diese Frage."

Dazwischen liegen Jahrzehnte. Ob sich in den vergangenen 40 Jahren irgendetwas wesentlich beim Filmemachen geändert hat? "Tja ... die Qualität eines Films entscheidet sich ja nicht in den Fragen, die man ans Leben stellt, sondern darin, wie mutig man selbst ist. Die Frage ist immer: Wie gehe ich mit mir selbst um? Das ist bei dir auch so, mit jedem Satz, den du schreibst. Und ich habe festgestellt, daß nur die Sachen wirken, die auch mich schockieren, wo ich zerrissen bin und mich schäme. Genau das macht den Film aus. Die Entscheidung fällt nicht nach außen, sondern mit mir selbst. Was trau´ ich mich eigentlich? Vor wem hab´ ich Angst? Wir haben alle Angst, den ganzen Tag, von morgens bis abends. Die Angst, ob ich das so erzählen kann und ob das nicht ein bißchen zu weit geht, die muß ich mit mir selbst ausmachen und die entscheidet die Qualität des Films."
Eine von Lemkes Qualitäten ist, daß er seine Schauspieler ernst nimmt, ihnen mit Respekt begegnet. Er wählt nie die billigste Form des Humors und der Realitätsbewältigung - Ironie -, sondern geht ernsthafte Risiken ein. Bei ihm gibt es kein postmodernistisches, wie auch immer geartetes Mehrdeutigkeitsspiel à la "aber reg dich doch nicht auf, das war doch eigentlich nicht ernst gemeint", sondern Mut - auch zum grandiosen Scheitern. "Ironie ist das Letzte, Loserquatsch! Die machen immer Filme über andere Filme, und auch noch ironisch. Ironie ... grauenhaft, nä? Dieses ironische Getue. Die Leute machen sich alle selbst kaputt und sind mit 29 fertig. Dann kommen noch Drogen, dann heiraten sie noch irgendwas Sinnloses, dann geht´s abwärts." Eine Ehe ist er noch nie eingegangen, aber die Frau seines Lebens hat er schon getroffen. Mehrmals. "Das ist auch eines der wichtigen Dinge: daß man lernt, daß man die Frau des Lebens nicht nur einmal trifft, sondern ziemlich oft. Damit muß man klarkommen. Man muß auch damit klarkommen, daß das Leben nicht wie bei Goethe daraus besteht, daß man was dazulernt und erwachsen und reifer wird, sondern daß man sich aus der einen Katastrophe in die nächste rettet, ohne zu lange über die alte nachzudenken. Das ist das ganze Leben - mehr nicht. Ich bin 70 Jahre alt, glaub´s mir. Da kannst du reiche Eltern haben, einen dicken Busen, eine alte Kamera - es ist immer dasselbe."
Der Hamster läuft im Rad, aber nicht das Rad treibt den Hamster an, sondern der Hamster sein Rad - zumindest im Fall Lemke. "Ich hab´ grade einen Film in Hamburg gedreht, kein großes Ding, den hab´ ich letzte Woche abgebrochen. Die Darsteller sind hier, die wissen das noch nicht. Das wird ein harter Moment, ich sag´ ihnen das erst morgen Nachmittag. Aber wenn´s mir nicht gefällt ... Ich werde das vernichten, verbrennen, damit das nicht irgendwann mal gefunden wird." Für halbseidene Unternehmungen hat Lemke keine Zeit, nie gehabt. "Wofür leben wir denn?! Wir können doch nicht alle ..." Hier gerät er ins Stocken, wenn er gedanklich all die Teile einer farblosen Konsenskultur vor sich ordnet, die einem vorne und hinten reingesteckt werden. "Also, ich find´ den Titel 'Adventures' sehr schön - weil die Leute sind absolut am Arsch. Wir sind vollkommen am Arsch, wir sind am Ende. Die jungen Leute haben sich vollkommen daran gewöhnt, daß der Staat ihren Alkoholismus bezahlt, die Filme und den Unsinn, und die wundern sich, wenn sie ein Jahr später in dem Massengrab landen, wo jedes Jahr Hunderte Filme reinfliegen. Wir sind vollkommen eingenommen von dem, was Staat ist, alles ist subventioniert. Der österreichische Film ist nur für Akademiegroßmitglieder, die für Oscars nominiert werden. Natürlich macht Haneke ganz gute Filme, aber ich krieg´ da drei Tage keinen mehr hoch! Es ist absolut entsetzlich, sowas zu sehen." Ulrich Seidl hingegen hält Lemke für einen von den Guten: "Der ist der einzige in Österreich, der mir gefällt ... es gibt noch Dominik Graf, die Ausnahme in Deutschland, von dem läuft grade 'Im Angesicht des Verbrechens' - das ist gigantisch! Daß einer sich mal wirklich was traut in Deutschland."
Ein Fünkchen Hoffnung läßt sich also doch nicht auspusten. Klaus Lemke hält konsequent die Kamera drauf. "Mehr kann man nicht erreichen im Kino, als daß sich die Leute hinterher ein bißchen lässiger fühlen, ein anderes Verhältnis zu sich haben, ein bißchen verzaubert sind, in die Köpfe anderer Leute reingehen und dann wieder in sich selbst."
Für mich ist es jetzt Zeit, aus Lemkes Kopf und Zimmer zu gehen. Wir verabschieden uns - und als ich gerade die Tür hinter mir schließe, höre ich noch, wie Lemkes Lebensfilm weitergeht und er die Schauspielerinnen aus "Schmutziger Süden" anruft, die auch in Wien sind, um die Filmvorführung bei der Viennale zu sehen: "Wo seid ihr? Zimmer 740 ... Zieht euch schon mal aus. Ich komm´ dann gleich runter."

Rokko’s Adventures

aus: Rokko´s Adventures #8


Text & Interview: Rokko            

Fotos: Klaus Pichler

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