Stories_Burning Down The Road/Teil 1
"Ne prilazite" & der Entminungsdienst
Ungarn scheint auch für Marathonradler ein ganz normales Land zu sein - oder seine Klischees gut zu verstecken. Wir sehen keinen Paprika, kein Gulasch, keinen Tokajer, keine Debreziner, keine Zahnarztwerbung, keine Wasserbüffel und auch keine Operettenromantik. Dafür gibt´s in Kroatien immer noch viele Kriegsschäden aus dem 1995 beendeten kroatisch-serbischen Krieg. 20.05.2013
Budapest - Belgrad - Schwarzes Meer. Mit dem Rad. Rund 1730 Kilometer. 23 Tage. Zehnmal die Donau und siebenmal Staatsgrenzen überquert. Fünf Länder. Zwei Platten. Ein Sturz, eine Panne, ein Sonnenbrand. Kein Problem.
Am Samstagnachmittag ist es auf Budapests breiten Ausfallstraßen erstaunlich ruhig. Radwege? Meistens Fehlanzeige. Im trostlosen, plattenbaudominierten Vorstadtviertel Csepel gibt es einen 200 Meter langen, im Nichts beginnenden und im Nichts endenden Radweg durch das Zentrum, später begleitet ein holpriger Radstreifen ein kurzes Stück die Straße. Links und rechts von uns herrscht Vorstadttristesse: Supermärkte, Baumärkte, Tankstellen ... Als wir endlich die Straße verlassen und auf einen die Donau begleitenden Hochwasserschutzdamm wechseln, ändert sich das Bild. Grüne Wiesen, Felder und Wälder begleiten den Damm, weit und breit ist keine einzige Erhebung zu sehen, und wir segeln mit dem Wind. Kleine staubige Dörfer bieten Abwechslung zur unendlich wirkenden Dammkrone. Den Fluß sehen wir lange Zeit gar nicht. Er ist hinter dichten Wäldern versteckt.
Für die erste Nacht beziehen wir Quartier in Ráckeve, das trotz seines Status als Stadt mit rund 10.000 Einwohnern sehr dörflich wirkt. Wir nächtigen in einem spartanisch eingerichteten Motel. In den Zimmern gibt es keinen Teppich, keine Nachtkästchen, keinen Spiegel, keinen Tisch, keine Sessel - bloß Betten. Der Sohn des Hauses übersetzt die Erläuterungen der Chefin in ein holpriges Deutsch, aber für das Notwendigste reicht es. Ráckeve liegt malerisch an einem Donaunebenarm, das Ufer ist allerdings ungenutzt. Hier würden sich eine Promenade und ein paar Lokale sehr gut machen. Die größte und - wie uns scheint - einzige Sehenswürdigkeit ist der angeblich erste Barockbau in Ungarn überhaupt: das 1702 von Johann Lukas von Hildebrandt im Auftrag von Prinz Eugen begonnene Barockschloß. Es beherbergt heute ein Hotel. Nachts geigt vor unserem Fenster ein tierisches Orchester auf. Hunde, Frösche, Grillen und morgens dann auch Hähne veranstalten ein unglaublich lautes Konzert.
Dutzende Kilometer radeln wir auf Hochwasserschutzdämmen in völliger Einsamkeit dahin, endlos vorbei an ebenen Wiesen, Feldern und Wäldern. Nur das Rauschen des Windes in den Bäumen und das Summen der Fliegen begleiten uns. Wenn wir nicht auf dem Damm unterwegs sind, schlängeln wir uns an Schlaglöchern vorbei, fahren über Wiesen und holprige Wege und freuen uns gelegentlich über frisch asphaltierte Straßen. Wird die Gegend hügeliger und es gibt vielleicht sogar Weingärten zu sehen, freut sich das Auge über die Abwechslung.
In der Kleinstadt Kalocsa überrascht uns eine Kellnerin mit sehr guten Deutschkenntnissen. "Ich habe es in der Schule gelernt und dann in Hajós gearbeitet", erklärt sie. Nach Hajós, einem rund 25 Kilometer entfernten Wallfahrtsort der Donauschwaben, kommen viele Nachfahren oder Verwandte der dort ansässigen deutschsprachigen Siedler. Mehr interessiert mich, ob viele Touristen mit dem Rad die Donau entlangfahren. "Nein, seit ich hier arbeite, sind Sie die ersten, die ich sehe." Hinter Kalocsa erstrecken sich Einkaufszentren und Betonwüsten; in dieser häßlichen, zersiedelten Gegend herrscht ein immenser Autoverkehr. Das ist wohl der vermeintliche Fortschritt.
Eine radelnde Reisebekanntschaft zeigt uns ein elektronisches Hundeabwehrgerät, das die Tiere mit hohen Tönen verschrecken soll. Das führt sie zur Sicherheit immer in der Satteltasche mit. Ich sehe tags darauf noch, wie etwas vor mir durch das hohe Gras die Dammkrone hinaufläuft, dann erscheint ein riesiger, kläffender Köter. Von wegen griffbereites Hundeabwehrgerät - bis ich das bei der Hand hätte ... Ich ignoriere den Hund, und nach ein paar Sekunden hat er auch genug von mir. Die nachkommenden Radler interessieren ihn schon nicht mehr.
Suchen wir den richtigen Weg, klappt das auch ohne Sprachkenntnisse. Einmal begleitet uns jemand mit seinem Fahrrad, ohne sich mit uns verständigen zu können, ein Stück und weist uns mit Händen und Füßen die Richtung. Ein anderes Mal bedeutet uns eine angesprochene Frau zu warten, verschwindet um die Ecke, kommt mit ihrem Auto zurück und fährt im Schrittempo vor uns her, bis wir auf der richtigen Straße sind.
Mehrmals erleben wir, daß selbst in gottverlassen Dörfern die Wirtshäuser mehrsprachige Speisekarten anbieten, die Wirtsleute aber keine außer ihrer Muttersprache verstehen. Bestellt wird dann, indem wir mit dem Finger auf die gewünschte Speise zeigen und das Personal auswendig weiß, was in der ungarischen Karte an dieser Stelle steht. Das Essen ist immer gut, üppig und billig.
Ungarns Dörfer wirken mitunter ärmlich, sind aber sehr lebendig. Wo immer wir entlangkommen, begleitet uns das Bellen der Hunde, das Schnattern der Gänse, das Gackern der Hühner oder das Meckern der Ziegen. In den Gärten werden Obst und Gemüse gezogen sowie Kleintier gehalten. Selbst im kleinsten Dorf gibt es einen Greißler und wenigstens ein Beisl. Viele Menschen sind zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs, es gibt sogar sonntags öffentlichen Busverkehr. Hin und wieder begegnen uns noch Pferdefuhrwerke. Statt mit betonierten Parkplätzen sind die Dorfstraßen mit Bäumen gesäumt, Gehsteige gibt es nicht. Reisekompagnon Karl meint, das erinnere ihn an seine Kindheit im Dorf in Niederösterreich der 1960er. Dort findet man das mittlerweile alles nicht mehr. Die ungarischen Provinzstädte warten meist mit vielen frisch renovierten, schmucken Barock- und Gründerzeitbauwerken auf.
Mohács, letzte Station im Süden Ungarns, ist berühmt für seine beiden Schlachten gegen die Osmanen. 1526 besiegten die Türken auf ihrem Eroberungsfeldzug Richtung Europa bei Mohács die ungarische Armee; 1687 schlugen die christlichen Truppen in der Nähe der Stadt die Osmanen bei deren Vertreibung aus Europa. Die erste Schlacht hat sich tief ins kollektive Bewußtsein der Ungarn gegraben. Zum 400. Jahrestag wurde mitten in der Stadt die 3600 Personen Platz bietende "Gedenkkirche auf dem Schlachtfeld" errichtet. In die Fundamente der Kirche ist Erde aus mehr als 3000 ungarischen Dörfern und Städten eingearbeitet.
Nach der Überquerung der Grenze zu Kroatien drückt der plötzlich auftretende Gegenwind unser Tempo auf 15 Stundenkilometer. Zu allem Überdruß sagt der Wetterbericht 33 Grad voraus. Das ungarisch-kroatische Grenzland ist öd, heiß und wenig abwechslungsreich. Später ändert sich die Gegend: Weinkeller und Weingärten prägen plötzlich die Landschaft, es geht hügelauf und -ab. Links blicken wir auf die Ebene des Naturparks Kopački rit, rechter Hand begleiten uns eine Lößwand und Weingärten. Dieser liebliche Streifen Land ist hübsch anzusehen. Es fällt in diesem Teil Kroatiens allerdings sofort auf, daß in den Dörfern sehr viele Häuser leerstehen und alte Höfe verfallen.
In einem dieser Dörfer rasten wir mittags. Es gibt für jeden einen Apfel, eine halbe Tafel Schokolade und kaltes Wasser. In einer gut verborgenen Touristeninformationsstelle freut sich eine junge Frau sichtlich über Kundschaft und überhäuft uns mit Infomaterial und Ratschlägen. "Are there many tourists coming?" frage ich. "There are tourists coming, yes, but they do not stop here, because we are still waiting for our 'Tourist Information' sign." Wir fragen nach den vielen leerstehenden Häusern. "The young went away when the war started in 1991, and they never came back. The old people died." Es geht aber wieder aufwärts mit der Region. Überall wird gebaut, es gibt bei weitem mehr Unterkünfte, als in unserem Reiseführer verzeichnet sind.
Schnell hat sich ein fixer Tagesablauf eingestellt: Wir stehen gegen 7 Uhr 30 auf, gehen zum Frühstück, radeln dann los, halten unterwegs eine kleine Vormittagspause, gehen Mittagessen, halten oft auch eine kleine Nachmittagspause, suchen abends eine Unterkunft, duschen, waschen Wäsche, essen und kippen erschöpft ins Bett.
Als wir nach Osijek kommen, wähnen wir uns in einem verschlafenen Provinznest. Das soll das Zentrum der viertgrößten Stadt Kroatiens mit rund 100.000 Einwohnern sein? In dem hübschen und frisch renovierten Barockviertel ist niemand auf der Straße, es gibt kaum Geschäfte. Dann begreifen wir: Wir sind im Stadtteil Tvrđa gelandet, einer ehemaligen Festung, die ab 1692 von den Österreichern zu einem Militär- und Verwaltungszentrum ausgebaut wurde. Das Leben pulsiert ein paar Kilometer weiter im "zivilen" Zentrum der Stadt. Noch sind gelegentlich Kriegsschäden aus dem serbisch-kroatischen Krieg zu sehen, aber der größte Teil der Altbausubstanz ist renoviert.
Zwischen Osijek und Vukovar häufen sich am Straßenrand die Hinweisschilder auf vermintes Gebiet. Der Entminungsdienst bereitet sich darauf vor, einen Acker zu untersuchen; mit Sicherheitsabstand steht auch ein Rettungswagen bereit. Die verminten Landstreifen sind verwachsen, Pinkeln wird - obwohl wir die betonierte Straße nicht verlassen - zum Nervenkitzel. Vukovar ist immer noch deutlich vom Krieg gezeichnet: Überwachsene Ruinen, beschädigte und notdürftig geflickte Häuser, Einschußlöcher, dazwischen moderne Bauten, die Zerstörtes ersetzen, und renovierte Altbauen prägen die Stadt. Auch in den Dörfern sind noch Spuren zu sehen. In einem sind alle Häuser entlang der Ortseinfahrt verlassen, die meisten davon nie fertiggestellte Rohbauten. "Stell dir vor, du bist Gastarbeiter, sparst ewig auf deinen Traum - und dann so was", sagt Karl.
Abends wird es noch einmal romantisch. In sonniger Abendstimmung durchfahren wir eine hügelige Landschaft. Kukuruzfelder und Weingärten, Sonnenblumenfelder und Nußbäume, kleine Wäldchen und Lößwände säumen den Weg. Gelegentlich läßt sich sogar die Donau blicken. "Ich fühle mich wie im Weinviertel", stellt Karl zu Recht fest. Als wir vor einer Kirche rasten, meint ein Passant in gebrochenem Deutsch: "Das ist serbische Kirche. Das ist scheiße." Dann zeigt er auf die katholische und meint: "Das ist gut!" Der Krieg ist seit rund 15 Jahren vorbei ...
In Ilok, der östlichsten Stadt Kroatiens, beziehen wir Quartier in der Pension "Massarini". Der Besitzer war während des Krieges elf Jahre in Deutschland als OP-Helfer tätig und spricht fließend Deutsch. "Kommen viele Touristen mit dem Rad die Donau hinunter?" will ich wie immer wissen. "Es werden jedes Jahr mehr." Wie üblich sehen wir keinen einzigen.
Im "Alten Keller", einem Hotel und Restaurant in der malerisch auf einem Hügel gelegenen Altstadt, essen wir zu Abend. Das Restaurant, originell und rustikal eingerichtet, ist auf alt getrimmt. Kellner und Rezeptionistin sprechen fließend Englisch, die Weinauswahl ist beachtlich, der Hauswein vorzüglich. Immerhin wird in der Umgebung schon seit 2000 Jahren Wein erzeugt. "Are there many tourists coming?" frage ich an der Rezeption meinen Standardsatz. "It´s getting better every year. This year we have a lot of work." Sowohl Einheimische als auch immer mehr Ausländer kämen, auch die Zahl der Radfahrer nehme stetig zu, erklärt sie uns. An diesem Abend sehen wir in dem riesigen Restaurant und beim Besuch der angeschlossenen Weinbar allerdings auch keinen einzigen weiteren Gast.
Kommentare_
Das ist ein ganz wunderbarer Reisebericht! ich kenne/kannte einiges besuchte und werde auch wieder dorthin fahren. Allerdings nicht mit dem Fahrrad. Das machen die morschen Knochen nicht mehr mit. Umso mehr genieße ich Deinen Trip.
Wow, was für ein großartiger Bericht!! Absolut authentisch und vorurteilsfrei. Für mich waren viele deja-vu's dabei: in den 80ern bin in ich viel in Ungarn, Rumänien und Bulgarien getrampt (Ex-Jugoslawien war leider 'tabu'). Und auch heute noch reise ich sehr viel privat durch die ehemaligen Ostblock-Staaten. Auch unser Familienurlaub findet das 3. Jahr in Folge in Bulgarien statt - nicht pauschal, sondern individuelle Bausteine zusammengebucht. In den bereisten Ländern bin ich immer wieder über verschiedene Dinge erstaunt: zum Einen wie viele Dinge aus der 'alten Zeit' quasi 'konserviert' sind und wie sehr sich das Leben von dem unseren hier in Westeuropa unterscheidet. Zum Anderen ist es beeindruckend zu sehen, wie die Menschen dort trotz ihrer Armut mit ihrem Leben zufrieden sind und für Gäste mitunter das Letzte geben und stets hilfsbereit anderen zur Seite stehen - auch bei völliger Sprachbarriere. Von uns 'Westlern' sollten viel mehr in diese Gegenden reisen, um zu erfahren, wie gut es uns hier eigentlich geht. Stattdessen Jammern auf hohem Niveau. Danke für's mitnehmen!