Stories_Die Schattenmänner, Teil 1: Chinn & Chapman
Die Kaugummi- Fabrikanten
Hinter gehypeten Pop-Püppchen und kreativen Sound-Künstlern verbergen sich oft die wahren Hit-Lieferanten. Ihnen widmen wir unsere neue Reihe "Die Schattenmänner".
Manfred Prescher führt Sie hinters Rampenlicht ...
02.05.2007
"Denn die einen sind im Dunkeln/Und die andern sind im Licht/und man siehet die im Lichte/Die im Dunkeln sieht man nicht", heißt es bei Brecht. Wir bewundern die Stars, während die Macher statt Ruhm den Reichtum ernten. Manfred Prescher stellt in loser Folge die wichtigsten Produzenten, Manager und Songwriter der Pop-Geschichte vor.
"Alice, who the fuck is Alice"? Genau: Wer ist eigentlich diese Alice, hinter der Chris Norman vergeblich herschmachtete? Sie ist das Produkt der kreativen Phantasie von Nicky Chinn und Mike Chapman, die "Living Next Door To Alice" ursprünglich für New World geschrieben haben. Das australische Trio nahm den Song bereits 1972 auf - und er klang wie die Blaupause von Smokies späterer Version. Doch die originale Variante floppte, konnte nicht an "Kara Kara" und "Tom Tom Turnaround", die mittelgroßen Hits von New World, anschließen.
Die extrem eingängige Melodie und die perfekte Instrumentierung zeigten aber auch in diesem Fall, daß Chinn und Chapman, die sich als Erfolgsduo "Chinnichap" nannten, einen eigenständigen Sound entwickelt hatten, der jedem Künstler, jeder Band, die sie unter Vertrag hatten, ihren Stempel aufdrückte. Opulente Produktionen, die sich trotzdem als locker und luftig genug erwiesen, zeichneten die Arbeiten der beiden aus - ob sie sich nun der Kompositionen anderer annahmen, wie in "Rose Garden", das sie in der Aufnahme von New World mit der weltweit erfolgreichen Nashville-Version von Lynn Anderson konkurrieren ließen, ob Suzie Quatro das urprünglich für Smokie gedachte "If You Can´t Give Me Love" aufnahm oder sich The Sweet an "Tom Tom Turnaround" versuchten.
The Sweet nehmen allerdings unter der Vielfalt ähnlich klingender Bands eine absolute Ausnahmestellung ein: Die Gruppe war musikalisch so eigenständig, daß sie sich recht schnell aus der Abhängigkeit befreien durfte und einen eigenen, rockigen Sound entwickelte - zunächst mit Songs wie "Hell Raiser", "Ballroom Blitz" oder "Blockbuster", die aus der Feder Chinns und Chapmans stammten, dann sogar mit eigenen Stücken wie "Fox On The Run" oder "Action". Und noch einen Unterschied gab es zwischen Sweet und den anderen Künstlern im Chinnichap-Stall: Während Suzie Quatro, Mud, Racey, Smokie und die anderen bei Mickie Mosts trendigem Hit-Label RAK veröffentlichten, waren Brian Connolly und Co. beim Alt-Major RCA untergekommen.
Unverwechselbare Klangfarben und eine eindeutig identifizierbare Art des Songwriting zeichnen die großen Schattenmänner aus, wie diese Serie noch oft belegen wird. Dazu gehört auch, daß das Lied wichtiger wird als der Künstler, der im Rampenlicht steht. Der ist austauschbar, muß aber konstant mit neuem Hit-Material versorgt werden. Die Vergänglichkeit des Tagesgeschäfts erfordert es, daß keine Pausen entstehen dürfen, Flops müssen rasch durch Erfolge abgelöst werden. Das gelang Chinn und Chapman in ihrer Blütezeit, den frühen und mittleren 70er Jahren, immer wieder - zum Beispiel, als sie der eher schwachen Sweet-Single "Alexander Graham Bell" den Karnevalsohrwurm "Poppa Joe" folgen ließen. Und sie verstanden es auch, nach einem Gassenhauer, etwa "Living Next Door To Alice", der in Deutschland 14 Wochen auf Platz eins der Hitparade rangierte, einen gleichwertigen Nachfolger zu servieren. Auf "Alice" folgte mit "Lay Back In The Arms Of Someone" eine weitere Schnulze von epischem Format.
Wenn die eigene Ideenvielfalt kurzzeitig aufgebraucht war, wurden fremde Songs in das Produktionsschema eingearbeitet: "Oh Boy" hatte in der Mud-Version nichts mehr vom Buddy-Holly-Original, und mit Sonny Bonos und Jack Nitzsches "Needles And Pins" ließen Chinn und Chapman Smokie ein Lied aufnehmen, das unter anderem dank der Versionen von Cher, den Searchers oder Jackie DeShannon eigentlich schon viel zu oft erfolgreich war, um noch einmal zum Hit zu werden. Doch die bekannte und bewährte Melodie klang wie eine typische Chinnichap-Produktion, sodaß die Nadelstiche nochmal ihr Ziel trafen.
Doch wer waren Chinn und Chapman? Diese Frage stellte der englische Musikjournalist Nigel Thomas schon 1974, also zu der Zeit, als die beiden Produzenten die Charts beherrschten. "Sie kommen ohne Glitzer-Make-up aus und singen niemals ihr eigenes Material", stellte er fest - und beschrieb sie als smarte, perfekt gekleidete Busineß-Men, als geschäftstüchtige Kreativzellen mit Selbstbewußtsein: "We´re absolutely obsessed with being the best songwriters in the world - within our own field", sagte Nicky Chinn damals im Interview. Nigel Thomas war sich derweil nicht sicher, ob die Songs der beiden Bestand haben würden, und stocherte im Nebel der Pop-Zukunft herum. "Will tomorrow´s kids rip off the Chinnichap style and ideas as they have borrowed from their predecessors? A big hype or the authentic spirit of Rock´n´Roll? Only time will tell", mutmaßte er.
Der 1945 in London geborene, gelernte KFZ-Mechaniker Chinn, der eher zufällig zur Musik kam und mit dem Soundtrack zum Peter-Sellers-Film "There´s A Girl In My Soup" 1970 einen ersten Achtungserfolg feierte, hatte allerdings die passende Antwort parat: "The thing about hype is that it is a little bit of an old-fashioned expression. The biggest hype ever was the Beatles. The only difference is that they could live up to it." Genau, die Pilzköpfe standen selbst im Rampenlicht und ernteten den Ruhm, während für Chinn und Chapman "nur" die Pfund-Sterling-Millionen blieben. Ihre Songs erwiesen sich als erstaunlich hartnäckig: "Alice", "Blockbuster", "Little Willy", "Can The Can", "Some Girls" oder "If You Think You Know How To Love Me" verkaufen sich heute noch ordentlich, woran natürlich auch die vielen Oldie-TV-Shows und die dazugehörigen Sampler mit schuld sind.
Käufer sind aber nicht nur die Alten, die schon in den 70ern gebannt vor den Radios saßen und die Hits auf die Kassettenrekorder bannten, sondern es sind tatsächlich Fans für die Bubblegum-Songs nachgewachsen. Und auch die wissen nichts von Chinnichap und ihrer präzisen Arbeit im Hintergrund - was der 1947 in Queensland/Australien geborene Chapman immer noch mit einem Lächeln zur Kenntnis nimmt.
Im Gegensatz zu seinem Kollegen wollte Mike Chapman immer Musiker werden - und während sich Chinn Anfang Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre, nach letzten Hits wie "Stumblin´ In" von Suzie Quatro und Smokie-Sänger Chris Norman oder "Kiss You All Over" von Exile und dem Umweg über das erfolglose Chinnichap-Label Dreamland allmählich aus dem Geschäft zurückzog, blieb Chapman aktiv. Er produzierte The Knack und ihr Album "Get The Knack", das den Welt-Hit "My Sharona" enthielt, saß unter anderem bei Rod Stewart, Bow Wow Wow, Altered Images, Debbie Harry und den vier hervorragenden Blondie-Alben "Parallel Lines" (genau, das ist die Platte mit "Heart Of Glass"), "Eat To The Beat", "Autoamerican" und "The Hunter" hinter dem Mischpult. Und er schrieb zum Beispiel für Pat Benatar "Love Is A Battlefield" und für Tina Turner "(Simply) The Best".
Auf Tinas 1984er-Comeback-LP "Private Dancer" ist mit "Better Be Good To Me" ein Hit zu finden, den Chapman noch mit Nicky Chinn zusammen geschrieben hat. Wahrscheinlich für Suzie Quatro oder Chris Norman. Doch ein guter Song verdirbt bekanntlich nicht ...
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Manfred Prescher
Kommentare_
"Better Be Good to Me" wurde für die, bei Dreamland Records unter Vertrag stehende Band Spider komponiert und 1981 auf dem Album "Between the Lines" veröffentlicht. Nicky Chinn erschien als Co-Autor aufgrund damals noch laufender Verträge mit Mike Chapman. Als Autor wird bei diesem Song auch Holly Knight angeführt, die einerseits Keyboarderin bei Spider war und andererseits zu Chapmans neuem Co-Autor wurde.
Chapman und Knight komponierten weiters: "Wrap Your Arms Around Me" für Agnetha Fältskog, "Love is a Battlefield" für Pat Benatar, "I Engineer" für Animotion, "Love Touch" für Rod Steward und "The Best" für Bonnie Tyler. Tylers Originalversion floppte und Tina Turner coverte den Song etwa ein Jahr danach für ihr Album "Foreign Affair". 1996 schrieben Chapman und Knight dann noch den Titel "In Your Wildest Dreams" für Tina Turner.
Weiters komponierte, textete und produzierte Chapman auch noch für Lita Ford, Material Issue, The Divinyls, Nick Gilder, Ace Of Base oder Device — eine Band, in der wieder Holly Knight an den Keyboards stand.
1978 produzierte Mike Chapman das das Derringer (Rick Derringer) Album "If I Weren't So Romantic, I'd Shoot You". Auf diesem Album gibt es eine kaum bekannte Nummer, die noch von Chinn/Chapman stammt — "It Ain't Funny".
Im selben Jahr erschien auch "Try it On" — der erste Song, den Chinn/Chapman für die U.S.-Amerikanische Band Exile schrieben. Der Song floppte und wurde wenig später von der Teeny-Band Rosetta Stone gecovert.
1994 komponierte und produzierte Chapman auch noch die Titel "As Good As It Gets" und "Red Hot Screaming Love" für das Album "The Album" von Chris Norman.
Ergänzung: Allan Clarke, Ex-Sänger der legendären Hollies coverte Smokie's Hit "If You Think You Know How To Love Me" 1976 in den USA. Pet Benatar coverte Smokie's "In The Heat Of The Night" und If You Think You Know How To Love Me" auf von Mike Chapman produzierten Alben. Racey's Hit "Love's A Riot" erschien Jahre später als unveröffentlihter Song von Smokie.