Stories_Spurensuche: Margareta Balog
Die barmherzige Barmherzige Schwester
Neue Forschungen und das bisher unveröffentlichte Tagebuch einer Insassin dokumentieren das dramatische Ende des Lagers für ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter in St. Pölten-Viehofen. Manfred Wieninger wollte es genauer wissen ...
07.10.2008
Miki Granskis Reiseführer für seine Spurensuche in St. Pölten-Viehofen ist das Tagebuch seiner Mutter, das der 50jährige IT-Manager aus Haifa mitgebracht hat. Die Tagebuchschreiberin wurde 1928 als Margareta Balog in eine ungarische Arztfamilie im jugoslawischen Subotica geboren und wird am 16. Juni 1944 gemeinsam mit ihrer Verwandtschaft ebenso wie die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt in Viehwaggons getrieben. Ziel des Transports ist Auschwitz, doch der mit rund 70 Personen völlig überfüllte Waggon der 16jährigen landet nach einer drei Tage dauernden Horrorfahrt ohne Verpflegung und mit viel zu wenig Trinkwasser im Zwangsarbeiter-Zwischenlager Strasshof in der damaligen Ostmark.
Mit Margareta Balog haben zunächst ihre Eltern Ernst und Julia, ihre zwölfjährige Schwester Olga und ihre Großmutter Elvira Voida überlebt; von den übrigen Verwandten wird Margareta nie wieder etwas hören. Anfang Juli 1944 werden die Balogs gemeinsam mit 121 weiteren ungarischen Juden wieder in Waggons gepfercht. Das Ziel der Fahrt wird ihnen nicht genannt, der Zug scheint um Wien herumzufahren und dann Richtung Westen unterwegs zu sein.
Die Verhältnisse in dem wiederum völlig überfüllten Viehwaggon während der tagelangen Fahrt von Strasshof nach St. Pölten sind traumatisierend. Das sechzehnjährige Mädchen schreibt später in sein Tagebuch:
Seligmann Klara lag auf mir. Ich war im Schock. Ständig bohrte sich irgendein Eisen schrecklich in mich. Es kam mir vor, daß diese Nacht ewig dauerte.
Familie Balog 1936 in Subotica. V. l. n. r.: Margareta, Olga, Dr. Ernst und Julia Balog
Am Abend des 10. Juli 1944 kommt der Transport am St. Pöltner Hauptbahnhof an. Die Nacht verbringen die künftigen Zwangsarbeiter am Boden der Warteräume - als Juden wird es ihnen nicht gestattet, auf den Bänken zu schlafen. Am Morgen marschieren die 126 Gefangenen, eskortiert von drei Wachen namens Kubitschek, Losleben und Seif auf Fahrrädern, in Richtung Osten durch die Stadt. Entlang des westlichen Ufers des Flusses Traisen geht es in Richtung Norden in die Au östlich des St. Pöltner Stadtteiles Viehofen, damals ein Industriedorf mit ein paar hundert Einwohnern. Die Neuankömmlinge finden ein leeres Lager mit acht umzäunten, kleinen Baracken vor. Außerhalb des Stacheldrahts stehen eine Waschküche, ein WC und die größte, für den Lagerführer bestimmte Baracke, die über einen Luftschutzbunker für ihn und die Wachen verfügt.
Die Viehofener Au gehört dem Grafengeschlecht derer von Kuefstein, deren jahrhundertealtes Schloß über dem Dorf thront. Betreiber des Lagers und damit quasi Arbeitgeber der ungarischen Juden ist der in St. Pölten ansässige Traisen-Wasserverband, der nach den verheerenden Hochwässern der Jahre 1940 und 1941 versuchte, den Fluß im Bereich von Viehofen zu regulieren. Ab 1942 hatte er sich dazu zunächst des Reichsarbeitsdienstes, dann Kriegs- und Strafgefangener sowie bis 10. Juli 1944 ukrainischer Zwangsarbeiter bedient. Als letztere kriegswichtigeren Arbeitsstellen zugeteilt werden, sucht der Verbandssekretär Johann Gruber um neue Zwangsarbeiter an, ist aber dann, wie aus kürzlich aufgefundenen Unterlagen hervorgeht, nicht gerade glücklich über die vom Gauarbeitsamt zugeteilten jüdischen Arbeitskräfte, da ihm zu viele Kinder, Frauen und alte Menschen darunter sind.
Die Wachen des Viehofener Aulagers sind neben dem Lagerführer Kubitschek, bis zuletzt ein überzeugter Nazi, zwei ältere Männer, die man aus der Pension geholt und hier in Dienst gestellt hat. Letztere stehen den Juden wohl weder besonders negativ noch positiv gegenüber. Der Lagerführer beginnt nach einiger Zeit ein Verhältnis mit einer jungen jüdischen Lagerinsassin, die diese "Freundschaft" in ihrer totalen Abhängigkeit wohl oder übel über sich ergehen lassen muß, und fürchtet daher die häufigen, scharfen Kontrollen der SS umso mehr. Die für das Mädchen sehr traumatische erzwungene Liebschaft wird ein paar Monate später in einer Abtreibung kulminieren, die unter primitiven Bedingungen und höchster Geheimhaltung vorgenommen wird.
Die schwere, erschöpfende Zwangsarbeit muß von den Erwachsenen am Traisenufer östlich des Lagers geleistet werden, wo Dämme zu bauen sind und der mäandernde Fluß in ein gerades Bett umgeleitet werden soll. Die Kinder haben im Lager Holz und Balken zu sägen sowie andere Arbeiten zu verrichten. Als alleinige Verpflegung für die zunächst 126 Zwangsarbeiter sind 14 Brote vorgesehen, die jeden Tag von Margareta und Julia Balog mit einem Handkarren von einer Bäckerei neben der Viehofener Schule abgeholt werden. Für die beiden Halbwüchsigen, die ein Dasein als Sklaven fristen müssen, ist es schrecklich, mitansehen zu müssen, wie das Leben im Dorf Viehofen völlig unbeeindruckt von ihren Qualen seinen ganz normalen Gang geht. Vor allem, wenn die Kinder in der Schule neben der Bäckerei fröhlich singen und lachen, ist den beiden jüdischen Teenagern ihr elendes Dasein besonders schmerzlich bewußt. Obwohl die Anzahl der Gefangenen in den folgenden Wochen und Monaten auf rund 180 steigt, werden nie mehr als 14 Brote zugeteilt. Vor allem alte Menschen im Lager erliegen dem Hunger, bis April 1945 sterben acht von ihnen. Während die Zwangsarbeiter darben, wird das Wild in der Au, die gräflich-kuefsteinsches Jagdrevier ist, bis Kriegsende gut gefüttert. Auf Fluchtversuche steht der Tod durch Erschießung, wird den Insassen ständig eingeschärft, aber aus Hunger werden trotzdem einige unternommen. Von diesen Flüchtigen hat man bis heute nie wieder etwas gehört.
Als Lagerarzt gelingt es Dr. Ernst Balog, der in Wien Medizin studiert hat, nach einiger Zeit Beziehungen zu einem Arzt im städtischen Krankenhaus zu knüpfen. Der St. Pöltner Mediziner hat sein Büro mit dem Porträt eines von ihm verehrten Wiener Universitätsprofessors für Chirurgie geschmückt, das einst auch in Dr. Balogs Ärztezimmer in Subotica hing. Die beiden Kollegen kommen einander näher, und bald erhält der jüdische Lagerarzt sogar Medikamente für seine Patienten. Als trotz all seiner Bemühungen ein Typhusfall im Lager auftritt, wird Dr. Balog von der SS dafür verantwortlich gemacht und in Gegenwart aller Insassen ausgepeitscht. "Schweine-Jude!" brüllt der SS-Mann bei jedem einzelnen Hieb, den er dem inoffiziellen Anführer der Lagerinsassen versetzt.
Manfred Wieninger und Miki Granski am Viehofener Traisenufer, das die ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter reguliert haben
(Foto: Josef Vorlaufer)
Ich stehe mit Miki Granski am östlichen Ufer des Viehofener Sees, eines rund 20 Hektar großen Schotterteiches, der in den sechziger Jahren ausgehoben wurde und unter dessen Fluten sich einst das Lager befand. Mikis Augen sehen für seine Mutter, die nach 1945 nie wieder hier war und nun nicht mehr reisefähig ist. Doch in ihrem Bericht von damals ist sie uns gegenwärtig ...
Die einzige Freude für die Lagerinsassen sind wohl die Nachrichten über das Vorrücken der Alliierten, die sie gelegentlich von italienischen Kriegsgefangenen aus einem weiteren Au-Zwangsarbeiterlager etwa einen Kilometer südlich erhalten. Die Italiener, die weit mehr Bewegungsfreiheit genießen, wickeln kurze, schriftliche Nachrichten um Kieselsteine und werfen sie über den Zaun ins jüdische Lager. Sie haben in ihrer Baracke ein illegales Radio und sind daher über den Kriegsverlauf bestens informiert. Als einige von ihnen bei einem Bombenangriff zu Ostern 1945 verwundet werden, werden sie ins jüdische Lager gebracht und von Dr. Balog im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten chirurgisch behandelt.
In den ersten Apriltagen ist bereits das Artilleriefeuer der Sowjetarmee zu hören, deren Angriffslinien sich von Osten her der "Wirtschaftsgauhauptstadt St. Pölten" nähern. Am Abend des 6. April 1945 erklärt der Lagerführer Kubitschek dem jüdischen Lagerarzt Dr. Balog, daß er sich mit seinen beiden Männern unverzüglich absetzen und die Insassen ihrem Schicksal überlassen werde. "Die Lagertore blieben unversperrt, und die Wachen kamen auch in der Nacht nicht mehr zurück", heißt es im Tagebuch von Margareta Balog. Kaum jemand im Lager schläft in dieser Nacht, alle Insassen stehen vor einer existentiellen Entscheidung. Am Morgen des 7. April verlassen die fünf Mitglieder der Familie Balog das Lager und machen sich auf in Richtung Krankenhaus. Nur wenige wie etwa die Familien Kohn und Kraus folgen ihrem Beispiel.
Durch den schlechten Gesundheits- und Ernährungszustand von Margaretas Großmutter Elvira Voida dauert der Weg, der normalerweise in nicht mehr als einer halben Stunde zu schaffen ist, mehrere Stunden - auch weil die Flüchtenden versuchen, die Strecke so weit wie möglich in der Deckung von Au, Feld und Flur zu bewältigen. Im Krankenhaus bittet Dr. Balog den ihm bekannten Chirurgen, ihn und seine Familie bis zum endgültigen Einmarsch der Russen zu verstecken. Der Mediziner zögert zunächst ein wenig, bringt die fünf Flüchtlinge dann aber in einer Kammer im Keller der Isolierstation unter, in der in großen Holzverschlägen die Kleidung von Patienten gelagert wird, die an infektiösen Krankheiten wie Typhus, Fleckfieber usw. verstorben sind. Das Spital, das bereits unter gelegentlichem Beschuß durch weitreichende Artillerie und Tiefflieger steht, hat keine Möglichkeit mehr, die Kleidungsstücke zu desinfizieren, ja, nicht einmal zu verbrennen. Ein großes Schild an der Tür weist auf die Seuchengefahr hin und hält auch die SS in den nächsten Tagen davon ab, diesen Kellerraum zu betreten.
Nur kurze Zeit nach der Flucht der Balogs rückt die SS in das Viehofener Aulager ein und erschießt alle Alten, Kranken und Schwachen. Der Rest der Insassen wird auf einen grausamen Todesmarsch nach Mauthausen getrieben, wo nur eine Minderheit lebend ankommen wird.
Sieben Tage lang bleiben die Balogs hinter den Holzverschlägen versteckt. Eine mit dem Arzt im Bunde stehende Krankenschwester und Nonne von den Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Vinzenz von Paul namens Schwester Andrea versorgt die Ausgehungerten mit Brot und warmer Suppe. Allein der Anblick der weißen, gestärkten Flügelhaube der geistlichen Schwester bedeutet Hoffnung für die Familie, die es Tag und Nacht nicht wagt, sich zu rühren, um nicht entdeckt zu werden. Nach ein, zwei Tagen beginnen die Balogs wahre Höllenqualen zu erleiden, als Margaretas schwerkranke und erschöpfte Großmutter einen nicht zu stoppenden Reizhusten entwickelt.
Am 13. April 1945 ist vor der Tür des Verstecks plötzlich Russisch zu hören. Kurz darauf kommt Schwester Andrea in die Kammer und teilt der überglücklichen Familie mit, daß sie nun ihr Versteck verlassen könne.
Greta und Olga Balog Anfang der vierziger Jahre
"Dann passierte etwas Surreales. Mein Großvater Dr. Ernst Balog wurde gebeten, sofort als Operateur zu beginnen, weil es im Krankenhaus an erfahrenen Chirurgen mangelte und massenweise Schwerverwundete, russische und deutsche Soldaten, aber auch Zivilisten eingeliefert wurden, deren Leben oft nur durch Amputationen zu retten war. Mein Großvater sagte zu, begann unverzüglich zu operieren und rettete wohl auch das Leben von Menschen, die ihm das seine zur Hölle gemacht hatten. Von einem Tag auf den anderen anderen vom Outlaw, der in einem Lagerraum um sein Leben zittern mußte, zum anerkannten, ärztlichen Mitarbeiter!" erzählt Miki Granski, als wir vor dem ehemaligen Isolierpavillon des St. Pöltner Krankenhauses stehen, in dem seine Verwandten im Seuchenversteck überlebt haben.
Durch Recherchen im Ordensarchiv der Barmherzigen Schwestern konnte nun auch die Retterin Schwester Andrea als Ursula Skafar mit bürgerlichem Namen identifiziert werden. Sie wurde 1893 im ungarischen Murabarat als Bauernmädchen geboren und trat 1912 bei den Barmherzigen Schwestern in Graz ein. Ihr ganzes Leben arbeitete sie als diplomierte Krankenschwester in vom Orden krankenpflegerisch betreuten Spitälern, so auch von 1939 bis 1946 im Krankenhaus St. Pölten.
Über die dramatische Rettung von fünf Menschenleben im April 1945 haben weder sie noch der Orden jemals Aufhebens gemacht - die 1976 in Wien verstorbene, barmherzige Barmherzige Schwester hat zeit ihres Lebens nicht ein Wort über ihre mutige Tat verloren. Nur dem Tagebuch von Margareta Balog ist es zu verdanken, daß die Retterin nun doch namentlich bekannt geworden ist.
Manfred Wieninger
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