Stories_EVOLVER-Literaturwettbewerb 2012
And the winner is ...
EVOLVER rief, und die einbandagierten Pharaonen kamen. Wir freuen uns, Ihnen die Sieger-Geschichte unseres Literaturwettbewerbs präsentieren zu dürfen: Lisa Lerchers "Heimkehr". Fröhliches Gruseln!
19.11.2012
Heimkehr
Die Vergangenheit holt einen immer ein - egal, wie sehr man sich dagegen sträubt. Irgendwann kommt der Moment, in dem es nur noch eine Richtung gibt. Plötzlich ist man bereit, sich zu fügen, ist erleichtert, weil man endlich eine Entscheidung getroffen hat - die einzig richtige.
Nach beinahe einem Jahrzehnt habe ich meine Zelte hier abgebrochen. An ein Leben in der Stadt hätte ich mich nie gewöhnt. Dass meine große Liebe ein Irrtum gewesen ist und ich meinen Job verloren habe, hat meinen Blick für das Wesentliche geschärft. Das Kind unter meinem Herzen wird seinen Platz kennen und in unserer Tradition aufwachsen. Endlich komme auch ich zur Ruhe.
Meine Mami erwartet mich an der Türschwelle. Stille Freude spiegelt sich in ihrer Miene, als ich sie umarme. Sie erscheint mir kleiner, schmaler, als ich sie in Erinnerung habe. Ihr Rücken ist gebeugt, die vielen Runzeln in ihrem lieben Gesicht sind Zeugnis eines entbehrungsreichen Lebens.
Ich gehe durchs Haus, schaue mich um - wenig hat sich verändert. Ich atme den vertrauten Duft der schweren Möbel ein, fahre mit dem Finger über die Kerben in der Tischplatte und spüre lang vermisste Geborgenheit.
Später steige ich die steile Stiege zum Dachboden hinauf. Das Bett in meinem alten Zimmer ist bezogen. Das kleine Fenster steht offen. Der Tannenkogel bewacht wie immer unsere Idylle.
Mami hat mit den Vorbereitungen begonnen. Für mich gibt es vorerst wenig zu tun. Ich gehe viel spazieren, atme die würzige Almluft und erzähle meinem ungeborenen Kind Geschichten aus unbeschwerten Tagen.
An einem feuchtnebeligen Herbsttag ist es dann soweit. Ich setze mich an den Küchentisch und schaue Mami beim Zerreiben der Kräuter im Mörser zu. "Weißt du es noch?" fragt sie leise. Ich nicke. Erst stockend, dann zunehmend flüssig zähle ich alles auf. Ab und zu ergänzt sie ein Detail. Aber insgesamt ist sie zufrieden und stolz auf mich. Das sehe ich ihr deutlich an.
Mami ist zusehends schwächer geworden. An manchen Tagen braucht sie meine Hilfe bei den Ritualen. Abends sitze ich oft lange an ihrem Bett und halte ihre Hand. Als dieses Strahlen von ihr ausgeht weiß ich, dass sie ihr Ziel bald erreicht hat. Meine Trauer schiebe ich zur Seite, sie hat neben ihrer gelösten Zufriedenheit keinen Platz.
Mami stirbt in einer stürmischen Novembernacht. Der Wind rüttelt an den Dachschindeln. Graupelschauer peitschen mir ins Gesicht, als ich nach draußen gehe und meinen Schmerz mit den Elementen wüten lasse.
Ich werfe einen letzten liebevollen Blick auf meine Mami, ehe ich ihren ausgezehrten Körper in eine Mischung aus Salz und Nitrit bette. Dazwischen lege ich wohlriechende Kräuter und Gewürze, so wie sie es mir beigebracht hat. Den Deckel der Truhe schmücke ich mit Kiefernzapfen und Reisig. Unsere magische Wurzel wacht über Mamis Verwandlung.
Den Ofen heize ich rechtzeitig ein. Die Räucherkammer ist neben der Scheune. Die dicken Buchenscheiter glosen. Mamis gepökelter Leib schaukelt im Luftzug, als ich die Tür von außen verriegle. Ausgedörrt hatte ihr Körper ausgesehen und leicht rötlich vom Pökelprozess. Durch das Selchen würde sie nun schwarz werden - so wie meine Geschwister, die in ihren hölzernen Truhen auf das Fest warten.
Der Tisch ist gedeckt, meine kleinen Brüder liegen in ihren Weidenkörbchen. Mami plaziere ich ans Tischende, dort, wo sie auch zu Lebzeiten immer gesessen ist. Ihr zur Seite thront meine Großmutter. Meine beiden Onkel lasse ich in ihren Behältern. Der Zahn der Zeit hat ihnen schon ziemlich zugesetzt. Mein jüngster Bruder schwimmt in Spiritus. Als Frühgeburt ist er für die Verwandlung in eine Mumie noch zu klein gewesen.
Dass Mamis Transformation mit der Karwoche abgeschlossen ist, nehme ich als Zeichen - denn Ostern gilt auch bei den Christen als Fest der Auferstehung.
Das Kind unter meinem Herzen hüpft vor Freude, als ich die alten Gesänge anstimme. Ich erhoffe mir eine Tochter, damit sie die Familientradition fortführt. Doch auch ein Sohn ist mir willkommen. Meine kleinen Brüder würden sich über einen neuen Spielgefährten bestimmt freuen.
Lisa Lercher
Kommentare_
Oha, das nenne ich Familienband(ag)e!
Gefällt mir sehr gut und ist ein gleichzeitig originell als auch stimmungsvoll.
Herzliche Glückwünsche zum 1. Platz! :)
Hmm, was das "ein" in meinem Kommentar zu suchen hat, weiß ich auch nicht....
Gratulation! Zuerst alles so normal, aber dann ... Klasse!
Gefällt mir auch sehr gut - kurz und bündig und dennoch so atmosphärisch - wirklich schön geschrieben und schön makaber!