Stories_Berlinale 2007/Journal III

Forum für Skurriles

Es gibt viele Strategien, sich sein individuelles Festival-Programm zusammenzustellen. Im Fall der Berlinale scheint zu gelten: Je weniger Filme des offiziellen Wettbewerbs man anschaut, desto größer sind die Chancen, eine ganze Reihe spannender Entdeckungen zu machen.    22.02.2007

Als sehr ergiebig für originelle Filmkost erwies sich einmal wieder die Nebenreihe "Internationales Forum des Jungen Films". Guy Maddins Brand Upon the Brain! zum Beispiel ist eine Mischung aus Jugenddrama und Horrorfilm mit einem recht morbiden Plot: Der junge Held Guy (Sullivan Brown) lebt mit seinen Eltern und seiner halbwüchsigen Schwester Sis (Maya Lawson) in einem einsam gelegenen Leuchtturm, den die Eltern als Waisenhaus nutzen. Vatermord, sinistre Experimente mit Hirnflüssigkeit und inzestuöse Beziehungen sind nur einige Motive in Maddins surrealem Werk, das als Stummfilm in Schwarzweiß gedreht ist und ein derart rasantes Schnitttempo aufweist, daß dem Zuschauer die Bilder geradezu maschinengewehrartig um die Ohren fliegen. Neben einer Erzählstimme (Isabella Rossellini) gibt es auch diverse Zwischentitel, die aber meist nur für einen Sekundenbruchteil eingeblendet werden. Das Ergebnis ist ein wildes Experiment, das bei allem Chaos aber nie strukturlos wirkt und bereits nach kurzer Zeit unmittelbar unter die Haut geht.

 

Viel ruhiger, aber nicht minder eindrucksvoll ist das Rachedrama Shotgun Stories von Jeff Nichols. Irgendwo im letzten Winkel von Arkansas fristen drei Brüder ein ereignisloses, nicht besonders erfolgreiches Leben. Nach dem Tod ihres Vaters, der sie vor vielen Jahren für eine neue Familie verlassen hat, kommt es zur Eskalation zwischen den dreien und ihren vier Halbbrüdern. Die blutige Vendetta, die bald entbrennt, wird eingerahmt von idyllischen Landschaften mit Baumwollfeldern und Ackerland in schönstem Cinemascope. Umso brutaler und sinnloser wirkt vor diesem Hintergrund der unbarmherzige Haß der sieben Jungs, die sich immer weiter in ihre unglücksselige Fehde verrennen. Nichols verzichtet dabei auf drastische Gewaltdarstellungen, beschreibt lieber detailliert den unspektakulären Alltag seiner Protagonisten, ihre Sprach- und Machtlosigkeit - und gibt damit seinem Film erst recht Wucht und Tiefe.

 

Die japanische Dokumentation Campaign ("Senkyo") von Kazuhiro Soda kommt dagegen wieder um einiges surrealer daher. Der 40jährige Geschäftsmann Yamauchi kämpft für die Liberaldemokratische Partei (LDP) um einen Sitz im Stadtrat von Kawasaki. Der Politikneuling wird von einem erfahrenen Wahlkampf-Team unterstützt, was jedoch immer mehr in Bevormundung ausartet. Und so hetzt der überforderte Yamauchi von Veranstaltung zu Veranstaltung, schüttelt unzählige Hände, hält Wahlkampfreden auf ausgestorbenen Straßen - und muß sich dabei immer wieder Vorträge anhören, was er falsch gemacht hat. Hier war der Händedruck nicht fest genug, dort die Tiefe der Verbeugung nicht angemessen ("Zur Not verbeugst du dich auch vor einem Telefonmast!"). Als sich der völlig Erschöpfte dann nach der Wahl tatsächlich erdreistet, kurz nach Hause zu fahren, statt brav vor der Tür des Wahllokals auf das Ergebnis zu warten, ist es mit der Geduld seiner Mitstreiter endgültig vorbei: "Wäre dies die Samurai-Ära, hätte er dafür Harakiri begehen müssen." Spannender als jeder Krimi erzählt dieser tragikomische Dokumentarfilm, der übrigens völlig ohne Kommentar und Musikuntermalung auskommt, ungeschönt vom täglichen Wahnsinn der Lokalpolitik made in Nippon.

 

Weitere Doku-Highlights hatte die "Panorama"-Schiene des Festivals zu bieten - zum Beispiel Crossing the Line. Der britische Filmemacher Daniel Gordon liefert ein vielschichtiges Porträt des ehemaligen US-Soldaten Joe Dresnok, der 1962 nach Nordkorea desertierte und bis heute in dem kommunistischen Land lebt. Als sehr kurzweilig erwies sich auch This Filthy World. Regisseur Jeff Garlin tat hier nichts weiter, als eine One-Man-Show von John Waters abzufilmen, in der der Trash-Filmemacher unzählige Anekdoten aus seinem Leben darbietet. Der geborene Selbstdarsteller Waters läßt hier ein wahres Feuerwerk schwarzen Humors auf den Zuschauer los, und so verläßt man einigermaßen atemlos das Kino - und mit viel Lust, sich doch mal komplett "Pink Flamingos" anzuschauen.

 

Der Goldene Bär ging dieses Jahr übrigens an die chinesische Produktion Tu ya de hun shi ("Tuyas Ehe"), die vom harten Leben einer Frau in der Inneren Mongolei handelt. Hm. Ob man von diesem Film jemals wieder hören wird, muß sich erst zeigen. Die Autorin freut sich auf jeden Fall schon auf die nächste Berlinale - abseits des Wettbewerbs.

Anne Herskind

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