Jack Ketchum
(Photos © Jack Ketchum/Caudio Sforza)
Stephen King bezeichnete den Autor Dallas Mayr - bekannter unter dem Pseudonym Jack Ketchum - einmal als den furchterregendsten Gesellen von Amerika. Im EVOLVER-Interview stellt sich Ketchum allerdings als höchst liebenswürdiger Zeitgenosse heraus.
Teil eins: über Love & Peace, Henry Miller, Gewaltpornographie und bewußtseinsbildende Taxifahrten.
30.06.2008
Über den Erfolg
EVOLVER: Dein Bekannheitsgrad in den USA ist seit vielen, vielen Jahren sehr hoch. In Europa, vor allem in den nicht-englischsprachigen Ländern, hat man gerade erst damit begonnen, dich besser kennenzulernen. Glaubst du, daß Europa bis jetzt noch nicht reif für deine Art der Literatur war?
Ketchum: Ich glaube, es ist eine Kombination aus verschiedenen Dingen. Die Anzahl verkaufter Exemplare hier in den USA etwa: Wenn meine Agentin ihren europäischen Subagenten sagen kann, von dem Buch sind 100.000 Exemplare über den Ladentisch gegangen, ist das wesentlich attraktiver und motivierender als nur 40.000 Verkäufe. Dann sind da die Verfilmungen, "The Lost" und "The Girl Next Door" (dt.: "Jack Ketchum´s Evil"; erhältlich auf DVD) sowie "Red", der ebenfalls bald rauskommen wird. Diese Filme promoten klarerweise auch meine Bücher, hier wie dort. Und dann ist da noch Stephen King. Als er mich in der Zeitschrift "Entertainment Weekly" als den "möglicherweise furchterregendsten Gesellen im Lande" bezeichnete, merkten viele Leute auf.
Über das Schriftsteller-Werden und -Sein
EVOLVER: Du hast eine Menge unterschiedlicher Jobs ausgeübt, bevor du DER Jack Ketchum wurdest. Wann war der Punkt erreicht, an dem du sagen konntest: "Okay, ab heute lebe ich vom Schreiben ..."?
Ketchum: Ich habe ja eben bei Bloodletting Press ein Büchlein mit meinen Memoiren veröffenlicht, das "Book of Souls". Das erste Kapitel nennt sich "Henry Miller and the Push", das genau diesen Moment im Detail wiedergibt. Kurz gesagt: Eines Tages war ich grad bei strömendem Regen auf dem Heimweg von meinem Job als Literaturagent - ich haßte diesen verdammten Job damals -, und kein Taxi in Sicht. Als dann endlich eines auftauchte, rannte ich darauf zu. Das gleiche tat auch eine alte Dame. Und ich hab´ sie einfach weggestoßen! Ich sagte zu mir, was für ein Monster bist du geworden! Wer zur Hölle bin ich? Fuck! Ich hör´ mit all dem auf und beginne wieder zu schreiben! Und dann traf ich Henry Miller, einen meiner damaligen Klienten, persönlich. Dieses Treffen gab mir die Kraft, das auch aus vollem Herzen zu machen.
EVOLVER: Und warum schreibst du, abgesehen vom finanziellen Aspekt?
Ketchum: Geld ist nur eine Art von Bestätigung dafür, daß meine Werke es offensichtlich wert sind, gelesen zu werden. Ich glaube, ich schreibe, weil ich nie richtig erwachsen wurde - weil es ein Spiel ist! Ein Spiel auf einem hohen Level. Und es ist - abgesehen vom Masturbieren - der größte Spaß, den man alleine haben kann!
Über Horrorliteratur
EVOLVER: Wolltest du immer schon Horror-Stories schreiben? Oder gab es da auch andere Optionen? Und welche Rolle spielt dein früherer Mentor Robert Bloch?
Ketchum: Ich habe Horrorliteratur immer schon gemocht, aber ich hab´ nie auch nur einen Versuch unternommen, selbst so etwas zu schreiben - bis ich etwa 35 war. Ja, ich schrieb eigenlich alles außer Horror: Gedichte, Theaterstücke, realistische Kurzgeschchten, ein Kinderbuch und eine Erzählung, die so tat, als wäre sie von Henry Miller und nicht von mir. Als ich dann zu publizieren anfing, schrieb ich großteils für Rock´n´Roll- und Männermagazine. Erst als ich die Idee zu "Off Season" (dt.: "Beutejagd") hatte, begann ich, Horror zu schreiben. Bob Bloch hat all das gelesen, von meiner Kindheit an bis weit in mein Erwachsenenalter hinein, und auf sehr weise Art kommentiert.
Über Normalität
EVOLVER: Du bevorzugst beim Schreiben scheinbar eher Geschichten ohne übernatürliche Elemente, von "She Wakes" einmal abgesehen. Magst du übernatürlichen Horror nicht, oder bietet das reale Leben Horror genug? In deinen Geschichten "Right to Life" oder "The Girl Next Door" geht ja der Schrecken nicht von irgendwelchen Ungeheuern aus, sondern vom "Normalbürger von nebenan". Du scheinst der Nomalität an sich zu mißtrauen.
Ketchum: Nein, ich lehne übernatürlichen Horror überhaupt nicht ab. Ich habe einiges davon gelesen, und - wie du sagst - "She Wakes" und einige meiner Kurzgeschichten haben sehr wohl übernatürliche Aspekte. Aber was mir wirklich Angst macht, ist das, was wir einander antun, wozu Menschen überhaupt fähig sind. Und darüber schreibe ich dann. Ich mißtraue der Normalität genausowenig, wie ich ihr von vornherein traue. Ein normales Äußeres kann eine Menge an miesem Verhalten verbergen. Verdammt, wir hören doch praktisch jede Woche davon!
Über Gewalt
EVOLVER: Die Zeitschrift "Village Voice" hat deine Texte einmal als "Gewaltpornographie" gebrandmarkt. Hast du das Gefühl, daß Leute, die Gewalt beinhaltende Horrorliteratur lesen oder sich Filme wie "Hostel" ansehen beziehungsweise einschlägige Computerpiele konsumieren, eher zur Ausübung von Gewalt tendieren?
Ketchum: Ich habe den Eindruck, daß gewalttätige Menschen eben gewalttätige Menschen sind. Vielleicht setzen sie ein Szenario um, über das sie gelesen oder das sie in einem Film gesehen haben, vielleicht erfinden sie aber auch etwas Neues. Wie auch immer, sie werden gewalttätig agieren. Und ich bin ja generell der Meinung, daß Menschen, die Belletristik lesen - nicht nur die Leser von Horrorliteratur - eher dazu tendieren, sanfter und sensibler zu sein. Es sind mitfühlende Menschen. Ich meine, darum geht´s doch in erster Linie beim Lesen von Belletristik, ums Mit-Empfinden, um Mitgefühl.
EVOLVER: Wie beurteilst du dann den "torture porn"-Boom im heutigen (Mainstream-)Horror?
Ketchum: Also, erst einmal ist das ja eine Fehlbezeichnung. Wenn du richtigen torture porn haben willst, geh ins Internet. Da gibt´s Dinge, da stellt es dir die Haare auf - und die sind real. Diese Filme, von denen du sprichst, das sind halt einfach sehr extreme Horrorfilme, manche besser, manche schlechter. Ich sehe da keinen großen Unterschied zu den Slasher-Filmen der Siebziger. Und von denen waren ja auch einige ziemlich fies - du erinnerst dich doch?
Über den "Summer of Love"
EVOLVER: Du bezeichnest dich selbst als Blumenkind, wenn du über deine Jugendzeit sprichst. Wie gelangt man von "Love & Peace" zur (fiktionalen) Gewalt von "Off Season" oder "The Girl Next Door"? Wie hast du die "psychedelischen" Sechziger erlebt (und überlebt)? Und was definiert diese Zeit besser: Woodstock oder Altamont?
Ketchum: Es gab nur ein Altamont, aber Dutzende von Woodstocks. Ich denke, daß die echten Blumenkinder - und da waren so viele, nicht nur jene, die sich hippiemäßig kleideten oder hippiemäßig redeten, sondern jene, die es ehrlich meinten - im Grunde alle ein Haufen verirrt-entmutigter Idealisten sind. Ich weiß, daß ich einer bin. Wir sind alle fürchterlich enttäuscht. Ich erlebte den kurzen Hauch von etwas wirklich Schönem, das unter uns Menschen stattfand - und sehr rasch war es auch schon wieder weg. Aber ein Hauch von etwas ist besser als gar nichts.
Mich persönlich lehrte diese Zeit ein paar harte Kontraste. Was wir uns wünschen - und was tatsächlich zustandekommt. Was wir erreichen könnten - und was wir letztendlich erreicht haben. Die Sechziger entfachten meinen Zorn und zur gleichen Zeit besänftigten sie mein Herz. Zorn und Sanftmut sind beide auch in meinen Büchern zu finden, glaube ich: der verirrt-entmutigte Idealist, der immer noch ein wenig Hoffnung in sich trägt ...
Coming up: Erfahren Sie im zweiten Teil alles über Hunde, Katzen, Elvis, globale Katastrophen und den Traum vom Zweithaus im mythenverhangenen Griechenland. Stay tuned!
Jack Ketchum
(Photos © Jack Ketchum/Caudio Sforza)
Jack Ketchum´s Evil
(Jack Ketchum's The Girl Next Door)
Als US-Autor Jack Ketchum in den 80ern die Bühne der Schreckensliteraten betrat, sorgte er besonders mit der Coming-of-Age-Story "The Girl Next Door" für reichlich ungutes Kribbeln in der Magengegend. Die Verfilmung liegt jetzt auf DVD vor.
Red
(Update 11/2008)
Das Phantastik- und Horrorfilm-Festival im spanischen Sitges hatte auch heuer wieder einige Kostbarkeiten im Programm. Eine davon war die Leinwandadaption von Jack Ketchums Novelle "Red". Hier kommen Tierquäler nicht mit einem blauen Auge davon ...
Beim Festival des Phantastischen Films 2016 im katalanischen Sitges sorgte er für Standing Ovations: "Blood on Méliès Moon" von Luigi Cozzi gehört zum Eigenwilligsten und möglicherweise Schönsten, was einem Filmnerd, der im klassischen Genrekino zu Hause ist, derzeit passieren kann. Österreichs Kino- und Festivalbetreiber haben dieses Kleinod (bis auf eine einzige Ausnahme) völlig verschlafen. Gott sei Dank gibt´s seit kurzem die DVD.
Zwischen Steampunk und Spukhaus, Sherlock Holmes und Jack the Ripper, Cthulhu und Captain Blood: Der britische Exzentriker Paul Roland gastiert mit seinen geisterhaften Klängen endlich wieder in Wien. Das sollte man sich wirklich nicht entgehen lassen.
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