Stories_Gaspar Noé: Kino kontrovers
Eine Frage der Moral
Lang bevor er mit "Irréversible" für Aufregung sorgte, galt der französische Regisseur dank "Seul contre tous" schon als Geheimtip. Beide Filme sind nun auch bei uns auf DVD erhältlich.
30.07.2004
Unter dem Titel "KinoKontrovers" startete das Kölner Label Legend Home Entertainment eine neue Edition, die sich filmischen "Grenzgängern" widmen wird. Den Anfang machen die beiden Spielfilme des französischen Regisseurs Gaspar Noé, der neben Jan Kounen und Mathieu Kassovitz mit Sicherheit zu den beeindruckendsten Künstlern innerhalb der jungen französischsprachigen Filmlandschaft gehört. Während sich letztere mit eher publikumstauglichen Filmen in die Kinos trauen, greift der 41jährige Noé Tabuthemen wie Inzest, Sodomie oder Vergewaltigung auf, um sie kompromißlos aufzubereiten und visuell spannend zu verpacken - von künstlerischen Abstrichen also keine Spur.
Als roter Faden dient dabei die Figur des Schlachters, die sich in allen Werken Noés wiederfindet, sowie unter anderem das Stilmittel des Textinserts, mit dem der Regisseur seinen Zuschauern Schlagworte ins Gesicht knallt.
Alle Menschen san ma zwider
Der soeben aus dem Gefängnis entlassene, namenlose Pferdeschlachter (genial: Philippe Nahon) muß feststellen, daß ihm nichts geblieben ist. Nachdem er seinerzeit einen Gastarbeiter abgestochen hat - in der Annahme, dieser hätte seine Tochter mißbraucht (zu sehen in Noés Kurzfilm "Carne") -, verlor er seinen Laden, sein Geld und die meisten seiner Freunde. Um wieder Anschluß ans bürgerliche Leben zu finden, heiratet er eine Wirtin, die ihm bei der erneuten Geschäftsgründung finanziell unter die Arme zu greifen verspricht. Stattdessen läßt sie sich schwängern und zwingt ihn unter ihre Fuchtel, sodaß er sich mitsamt ihrer Mutter und dem Balg in spe eine Wohnung teilen muß.
Nach unzähligen Vorträgen seiner Frau, was für ein Versager er doch sei, und einer Eifersuchtsszene bekommt die machtlüsterne Furie schließlich, was sie seiner Ansicht nach verdient - der Schlachter prügelt ihr das Kind aus dem Leib. Hernach zieht er mit Schwiegermamas Pistole aus, um sein Glück zu finden. Seine Odysee führt ihn in eine abgewrackte Spelunke, zu endlosen Haßtiraden gegen Gott und die Welt sowie zu Spaziergängen durch menschenleere Breitbild-Totalen. Schließlich entschließt sich der Schlachter, seine Tochter, die er seit seiner Inhaftierung nicht mehr gesehen hat, im Heim zu besuchen, um sie mit auf sein Hotelzimmer (wo sie seinerzeit auch gezeugt wurde) zu nehmen. Es folgt ein Insert, das dem Zuseher via dreißigsekündigem Countdown die Gelegenheit gibt, das Kino zu verlassen - denn der "Menschenfeind" nähert sich dem Endspurt, und die letzte halbe Stunde des Films naht.
Würde man "Seul contre tous" einem glasklaren Genre zuordnen wollen, wäre dies das Sozialdrama. Was aus solch einem Stoff unter der Führung eines kreativen Kopfs werden kann, zeigt Noés Spielfilmdebüt. Geichzeitig macht es schmerzlich bewußt, wie traurig es um die eigene, österreichische Filmlandschaft bestellt ist, zu deren "Stärken" besagtes Genre angeblich zählt. Nicht auszudenken, was die heimische Förderungsbrigade daraus gemacht hätte ...
"Where is justice, where is punishment?"
"Kino spüren", so nannte Medienwissenschaftler Christian Mikunda seinerzeit sein Buch über emotionale Mediengestaltung. Doch wann durfte man zuletzt das Privileg genießen, im abgedunkelten Raum den "Freuden" der fiktiven Erlebniswelt zu frönen? In Gaspar Noés "Irréversible" bleibt einem gar nichts anderes übrig.
Zur Story: Marcus (Vincent Cassel) und Pierre (Albert Dupontel) werden aus dem "Rectum", einem einschlägigen Homo-Club gebracht. Der eine mit gebrochenem Arm auf der Bahre liegend, der andere von Polizisten abgeführt. Warum? Weil sie den vermeintlichen Vergewaltiger ihrer gemeinsamen Freundin Alex (Monica Bellucci) mit einem Feuerlöscher in die ewigen Jagdgründe verfrachtet haben. Dabei war die Welt für Freund, Exfreund und die Wunderschöne vor ein paar Stunden noch in allerbester Ordnung, wie uns der Film beweisen wird.
Noés mit der Steadicam eingefangene Tour de force kettet den Zuseher durch betörend-verstörend gewaltige Bilder an sich und läßt keinen Raum zur Entspannung, geschweige denn die Möglichkeit zum Wegsehen. Nach handelsüblichen Schnitten wie in "Seul contre tous" sucht man hier vergeblich. Stattdessen folgt brutale Plansequenz auf Plansequenz, was gerade in der vielzitierten Vergewaltigungsszene und während des Besuchs im Lederschwuchtel-Sodom-und-Gomorrha (wo man fast damit rechnet, auch den beiden Gestalten aus Kerkhofs "The Dead Man 2" zu begegnen) das eigene Nervengeflecht strapaziert.
"Die Zeit zerstört alles" lautet das Credo des Films. Und wenn sich die Geschichte von Alex, Marcus und Pierre dem Betrachter rückwärts erzählt offenbart, bleibt daran auch kein Zweifel. (Und wenn sie es nicht schafft - der Mensch bestimmt ...) Denn obwohl am "Ende" von "Irréversible" alles wieder gut ist, könnte man von einem Happy-End gar nicht weiter entfernt sein.
Die DVD enthält neben einer "Einblick in die FX"-Featurette, in der die filmischen Zaubertricks offenbart werden, die für den in "Irréversible" anzutreffenden "Realismus" nötig waren, unter anderem auch den Kurzfilm "Intoxication" sowie ein exzellentes Booklet (eine thematische Fortführung des "Menschenfeind"-Textes).
Jürgen Fichtinger
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