Stories_Fahrenheit

Hochspannung per Mausklick

Interaktive Filme sind ein langgehegter Wunschtraum der Game-Industrie. Jürgen Fichtinger nimmt ein neues Spiel zum Anlaß für einen historischen Adventure-Streifzug.    24.10.2005

Fesselnde Geschichten zu erzählen, wie es der Traumfabrik in ihren Glanzzeiten oft gelang, war schon immer ein Credo des Adventure-Genres. Angefangen bei den ersten Text-Adventures in den Siebzigern, über die Sierra-Quest-Klassiker ("King´s Quest", "Space Quest", "Leisure Suit Larry") in den Achtzigern bis hin zur Point-and-Click-Revolution durch Lucas Arts´ "Maniac Mansion", "Zak McKracken" und später auch den Indiana-Jones-Abenteuern - immer waren es Geschichte und Figuren, die neben den verteufelten Rätseln zählten. Doch soviel Vergnügen, schlaflose Nächte oder ausgerissene Haarbüschel diese Games auch bescherten, eines waren sie selten: spannend.

Bis Sierra Entertainment der Coup gelang und sie Jane Jensen freie Hand ließen, damit sie mit ihren "Gabriel Knight"-Spielen Adventure-Geschichte schreiben konnte und das Genre erwachsener werden ließ. Hervorragend recherchiertes Hintergrundmaterial, durchdachte Charaktere und nicht zuletzt auch angedeutete sexuelle Spannungen feierten in "Gabriel Knight: Sins of the Father" neben anständigen Plots ihren Einzug: Die in New Orleans angesiedelte Story rund um den Mystery-Schriftsteller, der plötzlich auf Marie Laveaus Spuren wandelte und sich mit bösen Voodoo-Praktiken und seiner mystischen Familienvergangenheit konfrontiert sah, während er gleichzeitig Weiberröcken hinterherhechelte (sehr zum Mißfallen seiner Assistentin Grace), sind Legende. Zum ersten Mal sah sich der Spieler in einer fremden Welt gefangen, bekam glaub- und erinnerungswürdige Charaktere vorgesetzt und wurde nebenbei mit Sprechern wie Tim Curry, Michael Dorn oder Leah Remini verwöhnt. Allerdings kam das alles immer noch in zweidimensionaler, niedlich gezeichneter Pixelgraphik daher.

1996 feierten schließlich die ersten erwähnenswerten Pentium-Prozessoren ihren Einstand, die Heimmaschinen wurden leistungsfähiger, und das Lykanthropen-Abenteuer "Gabriel Knight 2: The Beast Within" wartete mit digitalisierten Realhintergründen und echten Schauspielern auf. Ein Prinzip, auf dem auch das ungefähr zur selben Zeit herausgebrachte Horror-Adventure "Phantasmagoria" von Roberta Williams basierte, das darüber hinaus noch eine ordentliche Portion Gore in petto hatte. Beide Spiele lockten den Spieler aus der Reserve, steigerten von Abschnitt zu Abschnitt die Spannung und servierten am Schluß Realtime-Herausforderungen, die dem gemütlichen Zocker durchaus den Schweiß auf die Stirn treiben konnten.*

Gleichzeitig sorgten Games wie "Quake", Tomb Raider" oder die "Duke Nukem"-Reihe für Furore und stießen in dreidimensionale Gefilde vor, während Echtzeitstrategie-Games zum Abbau von Tiberium und Spice verleiteten.

 

Die Adventure-Antwort auf diese Entwicklung folgte 1999 mit "Gabriel Knight 3: Blood of the Sacred, Blood of the Damned" in dem sich Sierra ebenfalls von 2D und Videosequenzen verabschiedete und statt dessen - trotz kleinerer Schwächen - ein dreidimensionales Adventure der Extraklasse lieferte, das darüber hinaus die Geschichte der heiligen Blutlinie bereits erzählte, als Dan Brown noch Hi-Tech-Thriller fabrizierte.

Doch obwohl Jensens neuester Streich die Kassen klingeln ließen, läuteten im Hintergrund bereits die Totenglocken für das Genre. Die Masse schrie (und schreit immer noch) nach Echtzeitstrategie, Ego-Shootern und den üblichen Hau-drauf- und Sport-Spektakeln. Die Zeiten des interaktiven Geschichtenerzählens schienen vorerst vorbei.

Seit ein paar Jahren schleicht sich das totgesagte Genre jedoch endlich wieder in die Verkaufsregale ein. Produktionen wie "Syberia", "Still Life", "Runaway" oder "The Moment of Silence" überzeugen teils durch exquisites Design, abenteuerliche Geschichten oder einfach Liebe zum Detail. Nur der Spannungsfunke wollte wieder einmal nicht wirklich überspringen.

Auf der anderen Seite versagt Hollywood in der Zwischenzeit qualitativ auf ganzer Linie. Von Marketing-Menschen erdachte und demgemäß degenerierte Blockbuster-Kreationen orientieren sich am kleinsten gemeinsamen Nenner und versuchen ein Publikum anzusprechen, dessen geistiges Fassungsvermögen sich in einem Fingerhut unterbringen ließe. Die guten Autoren haben sich längst in die schöne neue TV-Serienwelt zurückgezogen. Ein besserer Zeitpunkt, um mit Fahrenheit ein ausgefeiltes Adventure, das mit der Bezeichnung "interaktiver Film" hausieren geht, an den Start zu schicken, könnte also gar nicht existieren. Aber wird es den hohen Erwartungen tatsächlich gerecht?

 

"Fahrenheit" erzählt die Geschichte Lucas Kanes, eines typischen John Doe, der sein Geld vor dem Computer verdient. Doch ein vermeintlich harmloser Zwischenstop in einem amerikanischen Diner läßt seine Welt aus den Angeln kippen, als er in der dortigen Toilette plötzlich mit blutverschmierten Händen und einer waschechten Leiche zur Besinnung kommt. Plötzlich teilt sich der Bildschirm à la "24", und man darf einem Streifenpolizisten beim Kaffeeschlürfen zusehen. Glasklar, daß das Corpus delicti schnellstens entsorgt werden muß.

Hier macht sich auch gleich die erste Innovation von "Fahrenheit" bemerkbar: Statt gewohntem Point-and-Click-Verfahren werden Handlungen entweder mittels unterschiedlicher Mausbewegungen oder Tastaturspielereien vollführt. Auch die Zeit ist ein entscheidender Faktor; für jede Aktion und jedes Gespräch steht nur ein begrenztes Kontingent zur Verfügung.

Hat man die erste Hürde hinter sich gebracht, schlüpft man abwechselnd in die Rollen der ermittelnden Detectives Carla Valenti und ihres Sidekicks Tyler Miles und soll Herrn Kane zur Strecke bringen. Der Spieler bleibt während der gesamten Geschichte rund um gefährliche Geheimgesellschaften, Apokalypse und schwarze Magie gleichzeitig Jäger und Gejagter.

Jede Entscheidung wirkt sich dabei auf den weiteren Spielverlauf und das soziale Netzwerk der Figur aus, so daß unterschiedliche Lösungsvarianten zur Verfügung stehen. Aber auch das Gemüt des jeweiligen Protagonisten wird beeinflußt. Wird dieser zu depressiv, kann es passieren, daß er die Flinte ins Korn wirft und das Spiel vorschnell zu Ende geht.

Die automatische Speicherfunktion rettet den Spieler jedoch vor solch einem Fauxpas - auf Wunsch darf sogar jedes Kapitel erneut durchgespielt werden. Schließlich weiß man nie, wie es noch funktionieren hätte können.

Dank immer wieder eingesetzter Splitscreen-Technik, rasanter Inszenierung und nicht zuletzt der musikalischen Untermalung von David Lynchs Haus- und Hofkomponisten Angelo Badalamenti entfaltet sich so ein stimmungsvolles Mystery-Abenteuer vor den Augen - und Fingern - des willigen Adventure-Junkies.

 

Fazit: Ob David Cages Kopfgeburt wirklich die bisher unerreichbare Hürde zum interaktiven Film hinter sich gelassen hat, muß jeder Spieler selbst entscheiden. Die dramaturgischen Ingredienzen können es mit aktuellen Blockbuster-Produktionen jedenfalls mühelos aufnehmen. Somit liegt mit "Fahrenheit" das erste Adventure vor, dem es von Anfang an gelingt, Spannung aufzubauen und diese bis zum Schluß zu halten, während besagte Split-Screen-Kunstgriffe immer wieder für einen zusätzlichen Adrenalin-Kick sorgen. Nur bei den Charakteren hapert es.

Während beispielsweise Detective Mosely, einer Nebenfigur aus den "Gabriel Knight"-Abenteuern, eine eigene Fansite gewidmet ist und sich auch die anderen Figuren aus dem Reich der "Schattenjäger" immer noch einer großen Fan-Gemeinde erfreuen, hat man die Herrschaften aus "Fahrenheit" schnell wieder vergessen, so wie die Protagonisten gängiger Hollywood-Streifen.

Auf der anderen Seite stehen Lara Croft, 47, Larry Laffer oder die "Resident Evil"-Recken und liefern den Beweis, daß sich mit etwas Hirnschmalz eine solide Beziehung zum Spieler aufbauen läßt, die sich selbst durch mißratene Beiträge nicht erschüttern läßt (wie beispielsweise das unverschämte "Leisure Suit Larry: Magna cum Laude"). Doch die Spieleindustrie ist definitiv auf dem richtigen Weg - und wer weiß, vielleicht machen die digitalen Abenteuer dem herkömmlichen Kinobesuch bald ebenso Konkurrenz wie Hollywoods neue Seriengeneration. 

Jürgen Fichtinger

Fahrenheit

ØØØØ 1/2


(Quantic Dream/Atari/SevenM)

erhältlich für PC, PS2, Xbox

 

Created by David Cage

 

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Traurig, aber wahr


Unabhängig von der Entwicklung auf dem Spielemarkt opferten in den letzten Jahren viele Menschen noch mehr Zeit, um die klaffende Lücke im Adventure-Sektor in Eigenproduktion zu füllen. Herausgekommen sind dabei dutzende Fan-Adventures, einige davon sogar höchst professionell umgesetzt.

Eine der berühmtesten Fan-Produktionen war "King´s Quest IX", das mit einer mehr als 40 Mann starken Crew und Unterstützung der einstigen Sierra-Gründer Ken und Roberta Williams entstanden ist. Diesen Winter hätte der erste Teil des Games veröffentlicht werden sollen - und zwar völlig umsonst, nur aus Spaß an der Freude. Doch am 30. September verlautbarte Vivendi Universal Games, daß das den dortigen Rechenschiebern nicht recht sei, und das Projekt wurde eingestellt. Pfui Teufel, meine Herren!

 

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