Depeche Mode - Playing The Angel
ØØØØ
Mute/EMI (GB 2005)
Nach 25 Jahren und 50 Millionen verkauften Tonträgern fragen sich natürlich alle: Was blieb von den einstigen Synthpop-Pionieren? Eine Bestandsaufnahme von Ernst Meyer. 04.11.2005
Personal: Von der vierköpfigen Boyband sind nur mehr drei Jungs, äh Männer übrig: Dave Gahan, Martin Gore und Andy Fletcher. Alan Wilder verließ Depeche Mode schon Juni 1995, um sich seinen Solo-Ambitionen (Recoil) zu widmen. Infolgedessen stand ein Synth weniger auf der Bühne; vielleicht fiel das vielen gar nicht auf, aber trotzdem war im Studio einer zu wenig. Also mußte ein Drummer angemietet werden, und auch für Live-Konzerte suchte man einen Ersatzmann: Christian Eigner, ein Exil-Wiener in London, sprang in die Bresche. Eigners Drums sind seit fast zehn Jahren fixer Bestandteil des Depeche-Mode-Sounds. Überhaupt öffneten sich Depeche Mode nach Wilders Abgang immer mehr nach außen und vertrauten auf erfahrene Studiohasen/Producer. Dazu zählen Mark Bell (auf "Exciter") und Ben Hillier (auf "Playing the Angel"), der schon mit Bands wie Blur, Doves und Elbow arbeitete.
Sound: Der traditionelle Elektronik-Charme wich seit "Violator" (1990) immer mehr einer Dancefloor-kompatiblen Melange aus Portishead-TripHop, Chemical Beats und neuerdings einer Menge Distorsion-Knipserknasper aus Ben Hilliers Fuzztone-Box. Das Mastering auf "Playing The Angel" ist das härteste in Depeche Modes jüngerer Diskographie. 2005 fahren die Jungs wirklich schwere Geschütze auf: alte Analog-Synthies, verzerrte Gitarren, pulsierende Sequenzings und fette, fette Beats. Neu ist auch, daß Dave Gahan drei Songs beisteuern durfte. Seit seinem Riesenerfolg mit "Paper Monsters" gab der charismatische Sänger keine Ruhe mehr und wollte unbedingt auch auf die Depeche-Mode-Creditlisten. Martin Gore verzichtete um des Band-Friedens willen auf seinen Exklusivanspruch als alleiniger Komponist - wir erinnern uns: Auch Alan Wilder durfte hin und wieder einen Song-Klassiker schreiben. "Playing The Angel" fängt mit einem bombastisch-industriellen Gitarrenakkord an, reißt uns ordentlich heraus aus der stupiden Monotonie der Existenz. Der Opener "A Pain That I´m Used To" legt auch gleich das Tempo des Albums fest: Die Songs sind im Schnitt etwas flotter als auf "Exciter" geraten.
"John the Revelator" klingt ein bißchen nach "Personal Jesus" und ist die Coverversion eines Blues-Songs. "Suffer Well" beginnt mit einem straighten EBM-Sequenzing, das auch DAF gut zu Gesicht gestanden hätte. Ansonsten ähnelt der erste der drei von Dave Gahan komponierten Songs in den Harmonien frappant an "Behind the Wheel". Eine so große Band wie Depeche Mode kann es sich aber ruhig leisten, Selbstreferenzen anzuführen. Allein die Single-Auskopplung "Precious" stellt ein schwächeres Stück des Albums dar; Depeche Mode befinden sich hier plötzlich im Lager der Pet Shop Boys, Wolfsheim und ähnlichen Epigonen. Warum wurde nicht "Lilian", ein herzerfrischend poppiger Lovesong mit lakonischem Augenzwinkern, ausgekoppelt? Na, vielleicht wird´s ja die zweite Single.
Etwas ärgerlich ist "Damaged People", weil klar ersichtlich ist, daß Martin Gore darin seine privaten Kalamitäten (Scheidung) öffentlich verarbeitet. Seelenstrip gut und schön, aber Beziehungskrisen gehen niemanden etwas an, zumindest nicht die Fans. Den Abschluß des Albums bestreitet "The Darkest Star", und hier übertrifft sich das Trio selbst. Es ist ein elegischer, dunkler Song mit balladesken Elementen, grandios intoniert. Blendet man das gelegentlich nervige "Jesus" und Gospel-Getue wohlwollend aus, muß man unterm Strich zugeben: Depeche Mode haben mit "Playing The Angel" ein verdammt starkes Album vorgelegt. Die Fans werden es ihnen danken.
Image: Keine andere Band schrieb mehr Lieder über Autos. Keine andere Band schaffte es so subversiv, leicht pervertierte Refrains ("Master and Servant") in die Münder unschuldiger Teenager zu legen. Und keine andere Band hatte je einen höheren Jahresverschleiß an Lederjacken. OK, das waren die Achtziger. In den Neunzigern wurde David Gahans Drogenproblem publik. Der Wandel vom Playboy zum Papa wollte ihm nicht so recht schmecken. Er floh in eine Lebensphase, die unsere Vorfahren "Sex & Drugs & Rock´n´Roll" genannt hätten.
Da sich Depeche Mode damals gerade selbst in einer Metamorphose befanden - zum ersten Mal Gitarre auf Personal Jesus, aus Synth-Poppern wurden zunehmend Rocker -, fielen Gahans Exzesse am Anfang nicht sonderlich aus dem Rahmen, bis sein Verhalten dann das Sauber-Image der Band zu demontieren begann. Darüber hinaus war Gahan kaum mehr in der Lage zu singen, kam zu Studioterminen - wenn überhaupt - zu spät und bot auch sonst ein Bild des Jammers. Depeche Mode spielten mit "Songs Of Faith And Devotion" dementsprechend auch das schlechteste Album ihrer Band-Geschichte ein. Bald darauf folgte der totale Zusammenbruch Gahans und seine Auferstehung. Aufgrund dieser Läuterung schwor er den Drogen ab und suchte sein Heil in christlich-mystischem Gedankengut.
2005 besitzen Depeche Mode ein zwiespältiges Image. Da ist auf der einen Seite die rockig-rauhe Aura. passend zu Anton Corbijns grobkörnigen Schwarzweißphotos, die Hochglanzgazetten jedoch zeigen satte Farbbilder, ganz mainstream-marketinggerecht. Martin Gore trägt zwar noch immer schwarz, hat aber seine Lederjacke gegen HipHop-Sweater und dazupassende Anhänger getauscht.
Die andere Seite ist die der Barden mit dem gebrochenen Herzen. Martin Gore kiefelt an seiner Scheidung, und seine Songs für "Playing" sind in ihrer Atmosphäre so düster wie zuletzt auf "Black Celebration". Dave hat sich, glaubt man den wenigen Yellow-Press-Interviews, vom Saulus zum Paulus gewandelt: Drogen sind schlecht, und es gibt Wichtigeres im Leben. Nur - besonders zukunftssicher und optimistisch klingen Depeche Mode als Einheit noch immer nicht, haben sie nie und werden es wahrscheinlich auch nie. Aber gerade das macht sie so attraktiv. Keine andere Band bietet eine dermaßen riesige Projektionsfläche für die Frustrationen und Sehnsüchte ihrer Fans beiderlei Geschlechts. Ob verhinderter Romantiker, manischer Dancefloor-Nerd, SM-Fetischist oder Schwuler - Depeche Mode halten allen ihren Spiegel vor, und es zeigt sich: sie haben dieselben Ängste und Psychosen wie wir alle.
Lyrics: Romantische Obsessionen bis hin zum Masochismus kennzeichneten schon seit jeher den Großteil von Martin Gores Lyrics; in David Gahan hat er nunmehr einen seelenverwandten Koautor gefunden. Weder textlich noch musikalisch lassen sich Davids von Martins Songs durch bloßes Hören unterscheiden. Das ist interessant. Daraus läßt sich nämlich ableiten, daß David Gahan schon seit längerem in den Songwriter-Startlöchern scharrte. Auf "Playing The Angel" ist jedenfalls alles beim alten: Herzschmerz, Einsamkeit, Isolation, unerwiderte Liebe, das sind die guten alten Depeche-Mode-Ingredienzen. Dave Gahan ist gesanglich so stark wie vor 20 Jahren, er hat auch fleißig Gesangsunterricht genommen. Der einzige Minuspunkt: Man merkt es hie und da, wenn er etwas ins Operettenhafte abgleitet. Die Verarbeitung von Weltschmerz und enttäuschter Liebe war auch schon auf älteren Alben der Kern der meisten Lyrics, früher blieb jedoch noch ausreichend Platz für beispielsweise kommunistische Agitation ("Construction Time Again") und Sozialkritik ("Some Great Reward").
Auf "Playing The Angel" ist davon nichts mehr übrig. Depeche Mode schwelgen in Selbstmitleid, äh - Soul. Davon zeugen Songs wie "Damaged People", "Suffer Well" oder "Sinner In Me". Auch die Widmung auf dem Cover macht klar, was einen auf dem erlebnisreichen Album erwartet, nämlich "pain and suffering in various tempos".
Depeche Mode - Playing The Angel
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Mute/EMI (GB 2005)
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