Stories_Jubiläumsausgabe: Miststück der Woche II, Pt. 75/I

Altes vom Lande

Am Anfang schuf Gott das "Miststück" - und nun wird es bereits 175 Ausgaben alt. Wir feiern dieses Ereignis von fast schon biblischer Tragweite mit einem Blick auf eine Musikrichtung, die ebenfalls schon lange nicht mehr neu ist. Your host, als always: Manfred Prescher.    26.10.2009

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Da sprach der alte Häuptling Chefredakteur: "Gibt es denn niemanden, der mal einen definitiven Country-Sampler zusammenstellen könnte? Einer wie Disco Stu? Bloß halt mit einem Stetson auf der Murmel?" Ich nannte ihm die Adresse eines alten Freundes, den wir alle seit den Tagen, als der Büffel die Prärie beherrschte, "Outlaw Hank" nennen. Doch der war grad nicht zu Hause, sondern mit dem letzten Trail in Richtung Nobodyville/Tennessee unterwegs. Also muß ich wieder mal ran. Weil aber das Country-Feld mindestens so weit ist wie die Sierra Nevada, gestaltet sich das Unterfangen ziemlich schwierig. Daher konzentriere ich mich bei der imaginären "Miststück In The Saddle"-Kompilation auf wirklich altes Zeug - und überlasse Neo-Country und Alt.Country meinen Nachfahren. Nicht, daß ich was gegen Ryan Adams, Wilco oder dergleichen hätte ... Es ist einfach so, wie schon Wyatt Earp sagte: "Man muß Prioritäten setzen - also erst schießen, dann fragen."

 

Natürlich erhebt auch diese Sammlung keinen Anspruch auf Vollständigkeit; sonst würde sie als ja 200.000-CD-Box bei Bear Family Records erscheinen. Mit einem Begleitbuch, das mehrere Stadtbibliotheken deutsch/österreichischer Kommunen füllen würde. Meinen Freund Emmerich, unseren alten Kumpel Susemihl und zwei, drei andere Weirdos würde solch ein Mammutwerk natürlich erfreuen. Unsere Frauen wären allerdings weniger amused, weil der Raum zum Wohnen ohnehin schon durch Platten, Filme und Bücher stark begrenzt ist. Abgesehen davon: Wie alt müßte man werden, um das alles hören und lesen zu können? Wenn man dann noch wie meinereiner ein leidenschaftlicher Eklektizist ist, wäre es mit dieser einen Bear Box natürlich nicht getan. Gerade kommen die Motown-Singles der 60er, auf mehrere Schachteln verteilt, heraus. Eben.

Zurück zum alten Country der imaginären CD: Wir wissen natürlich alle, daß dieser Sound irgendwie auch mit Rock´n´Roll zu tun hat und auch der Blues ein direkter Verwandter ist. Aber das spielt im Augenblick keine Rolle, denn stilistische Abgrenzungen sind hier nicht das Thema.

Obwohl tief im Süden der Rassismus in seiner extremen Form allgemein verbreitet war, ist die thematische und musikalische Nähe zwischen Schwarz und Weiß eine Tatsache. Wer mehr darüber wissen will, soll fragen - oder Bücher von Leuten wie Colin Escott oder Peter Guralnick lesen. Hier geht es vielmehr um die zentralen Themen, die die Interpreten immer und immer wieder - und bis zum heutigen Tag - in den Country-Songs aufgreifen. (Deshalb ist das gut abgehangene Zeug nicht nur für Nick Cave interessant)

Wir präsentieren Ihnen 20 Songs von ebenso vielen sehr unterschiedlichen Künstlern. Outlaw Hank hätte seine Freude daran. Ich hoffe, Sie auch. Denn es gibt was zu entdecken. Während unsere Ahnen hier noch auf Horst Wessel anstimmten und den Endsieg wollten, waren einige Hinterwäldler schon richtig modern. Wahrscheinlich, weil sie von der persönlichen Endniederlage überzeugt waren ...


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

 

But here we go - "Miststück In The Saddle, Vol. 1"

Manfred Prescher

1. Tommy Duncan - Hound Dog (1953)

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Nein, mit dem von Leiber/Stoller und Johnny Otis für Big Mama Thornton geschriebenen Song, der später von Elvis zum Welthit gemacht wurde, hat dieses Lied kaum etwas zu tun - obwohl Duncan die drei als Urheber angibt. Hier wird nicht gerockt, die Version drückt eher die Verzweiflung aus, die einen gutgläubigen Menschen überkommt, wenn er in direktem Kontakt zu einem "Hound Dog" steht. Als einer der kreativen Köpfe der Western-Swing-Big-Band von Bob Wills hat Duncan übrigens selbst einige Klassiker geschrieben.

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2. Lee Marvin - Wand´rin Star (1969)

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Der Song stammt aus einem sehr mittelmäßigen Film ("Paint Your Wagon") und hat diesen überlebt. Hollywood-Haudegen Marvin spricht die Zeilen mit einer tiefen, wind- und wettergegerbten Stimme. Gesang hört sich zwar anders an, aber "do I know where hell is, hell is in 'hello' " muß so klingen. Auf der Single-B-Seite ist übrigens Clint Eastwood zu hören.

 

 
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3. Jerry Lee Lewis - Another Place, Another Time (1968)

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Jay Livingstone und Ray Evans schrieben diesen Song zehn Jahre vor Lewis´ Veröffentlichung. Zu Hit-Ehren kam er erstmals durch Patti Page, nicht verwandt oder verschwägert mit unser aller Pin-up-Queen. Aber erst der einzig echte King of Rock´n´Roll machte ein Monument daraus, indem er einfach sein buntes Katastrophenleben in diese Version packte.

 

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4. Jimmie Driftwood - Tennessee Stud (1959)

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Driftwood ist das Bindeglied zwischen Folk und Country; seine beiden größten Hits waren "The Battle Of New Orleans" und eben "Tennessee Stud". Dieses Märchen von einem Mann und seinem Pferd, die gemeinsam losreiten und sich auf dem Rückweg von Arkansas beide verlieben, wurde - mit leicht geändertem Text - von Johnny Cash für "American Recordings" aufgenommen.

 

 
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5. Moe Bandy - Honky Tonk Amnesia (1974)

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Auf seinem 74er-Debütalbum "I Just Started Hatin´ Cheatin´ Songs Today" sang Moe Bandy die Stücke anderer - vorzugsweise von Buck Owens und Billy Joe Shaver. Auch "Honky Tonk Amnesia" stammt aus der Feder dieser beiden großen Songwriter. Bandy verwandelt das Stück in eine absolute Säuferhymne. Wir wissen ja: Durch den Boden des Bierglases betrachtet sind alle Frauen hübsch. Später folgten weitere Säuferhymnen und das ewig schöne "Till I´m Too Old To Die Young".

 

 
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6. Bob Wills & The Texas Playboys - Milk-Cow Blues (1932)

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Der Texaner Bob Wills unterhielt eine echte Big Band - und die konnte sich mit den großen Swing-Orchestern von Armstrong oder Calloway durchaus messen. Bis zu 23 Virtuosen spielten zur besten Zeit der Playboys in den 30er und frühen 40er Jahren. Wills hatte Hit auf Hit - "San Antonio Rose", "South Of The Border" oder das auch Jüngeren bekannte "Cotton-Eyed Joe". Und der Milchkuh-Blues bringt schon alles mit, was ein Rock´n´Roll-Song braucht.

 

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7. David Allan Coe - Willie, Waylon And Me (1977)

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Ob die Outlaws Willie Nelson und Waylon Jennings den Redneck-König Coe als einen der ihren betrachteten, weiß ich nicht, aber "Willie, Waylon And Me" ist ein Statement für diese Art des Rabauken-Country. Und in der Hauptsache ist es eine wohlklingende Kampfansage an die Southernrocker, also an die Eagles, die Byrds und die Flyin´ Burrito Brothers. God damn hippies!

 

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8. Marty Robbins - El Paso (1959)

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Es war die Zeit, als Country die Jukeboxes füllte - mit sentimentalen Liedern wie Bobby Bares "Detroit City" oder der flirrenden, aber doch sehr tragischen Tex-Mex-Schmonzette "El Paso". Robbins, der als vielseitiger Songwriter unter anderem für die Ray Conniff Singers aktiv war, hatte seinen größten Hit ausgerechnet mit dieser kitschig-schönen Western-Variante von Romeo und Julia. Wer sich drauf einläßt, bekommt eine emotionale Breitseite, die ins Herz trifft wie eine Kugel aus Wyatt Earps Colt.

 

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9. Chinga Chavin - Asshole From El Paso (1976)

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Antwort-Songs sind nicht nur bei den Cowboys weitverbreitet  aber eine Antwort wie diese ist doch eher selten. Chavin nahm sich Merle Haggards "Okie From Muskogee" vor und befreite das Stück von jeder Spur Südstaatenstolz. Das bitterböse Lied gehört zum Konzertstandard von Chavins Kumpel Kinky Friedman und hat bis auf Versmaß und Melodie doch nicht soviel mit Haggards oft falsch verstandenem Original zu tun.

 

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10. Merle Haggard - Running Kind (1977)

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Haggards definitive Nichtseßhaften-Hymne: Bevor ein Techtelmechtel in eine Beziehung ausartet, ist der Mann schon weg. Dieser klassische Flucht-Song wurde übrigens kongenial unter anderem von Dolly Parton und Johnny Cash gecovert. Zehn Jahre vor "Running Kind" schrieb und sang Haggard das ebenso große "Branded Man" - und das sind nur zwei seiner vielen famosen Songs.

 

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Back in the saddle

Miststück der Woche II, Pt. 75/II


Anläßlich der Jubiläumsausgabe präsentiert Manfred Prescher die Tracks 11 bis 20 seiner fiktiven Country-Compilation. Yeeha!

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