Festival de Cannes 2015
13. bis 24. Mai 2015
Gaspar Noé bringt die Liebe nach Cannes. Matteo Garrone erzählt "The Tale of Tales". Todd Haynes adaptiert Patricia Highsmith - und auch sonst spielt es sich in Cannes wieder ab. Michael Kienzl liefert einen Vorgeschmack. 13.05.2015
Es ist wieder so weit: An der Croisette werden Unmengen an Containerhäuschen und Zelten hochgezogen. Wo sonst ein fast endloser Sandstrand von den Bausünden der südfranzösischen Stadt Cannes ablenkt, sieht es im Mai aus wie in einem Flüchtlingscamp der Upper Class. Rund um den Festivalpalast - bei dem auch nur der Name glamourös ist - finden Verleiher, Produktionsfirmen und Ländervertretungen eine temporäre Heimat. Während sich in den großen Kinosälen die Crème de la Crème des internationalen Kunstkinos trifft, werden hier Geschäfte gemacht. Der Vermarktungsbetrieb in Cannes ist mittlerweile so präsent, daß sogar darüber schon Filme gemacht werden. James Toback und Alec Baldwin haben mit ihrer Dokumentation "Seduced and Abandonded" gezeigt, was es für ein Knochenjob ist, in Cannes einen Film zu verkaufen.
Im letzten Jahr erzählte die deutsche Regisseurin Isabell Suba in "Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste" ähnliches aus feministischer Perspektive. Da sage noch jemand, es gehe hier nur um Sehen und Gesehenwerden. Mindestens genauso geht es ums Kaufen und Gekauftwerden.
Im Keller des Festivalpalasts befindet sich der Marché du Film - ein gigantischer Filmmarkt, auf dem nicht nur die Beiträge aus dem offiziellen Programm einen Verleih suchen, sondern auch ansonsten alles verscherbelt wird, was gerade so im Angebot ist. Unterhält man sich mit Kollegen, die sich während des Festivals auf dem Markt herumtreiben müssen, hört man schnell die Frustration raus. Filme werden dort nur nach zwei Kriterien geschaut: ob sie zum Verleihprofil passen und ob sie im jeweiligen Land vermarktbar sind. Dabei muß man sich mitunter durch den Bodensatz der zeitgenössischen Filmproduktion wühlen. Vieles, was hier angeboten wird, ist direkt für den Videotheken-Wühltisch produziert worden. Als Pressevertreter ist man trotzdem manchmal ein bißchen neidisch, bei all den verheißungsvollen Flyern und Plakaten, die mit billigem Graphikdesign und reißerischen Slogans für einen x-beliebigen B- bis Z-Movie werben, dem dann Schauspieler wie Lance Henriksen oder Michael Madsen ein wenig Glanz verleihen.
In den oberen Etagen bei der renommierten Filmkunst ist man dann aber auf Dauer vielleicht doch besser aufgehoben. Auch in diesem Jahr hat Festivalleiter Thierry Frémaux wieder alles dafür getan, um den Ruf des Festivals als place to be des Autorenadels zu bewahren. Während auf der Berlinale gerne politische Themenfilme programmiert werden und man sich in Locarno seit einigen Jahren experimentierfreudig zeigt, bleibt Cannes auch weiterhin auf der sicheren Seite, setzt auf etablierte Namen, traut sich aber eben auch, fordernde Filme in den Wettbewerb zu nehmen. Allerdings hat sich die Aufmerksamkeit in diesem Jahr ein wenig vom Zentrum an die Ränder verschoben. Ausgerechnet die bekanntesten Protagonisten des französischen Kinos laufen in den Nebensektionen. Mindestens genauso interessant wie die Frage, was im Wettbewerb läuft, ist heuer die Frage, was dort nicht läuft.
Die Quinzaine des Réalisateurs - eine Art Festival im Festival, das beispielsweise bei der Auswahl von Genrefilmen weniger zurückhaltend ist - versammelt dieses Jahr gleich mehrere Regisseure, die ansonsten Stammgäste bei Frémaux sind. Philippe Garrels neueste schwarzweiße Beziehungsminiatur eröffnet das Festival am Donnerstag. Später läuft auch Arnaud Desplechins neue Regiearbeit sowie Miguel Gomes´ sechsstündiger "Arabian Nights", der es angeblich nur wegen seiner ausufernden Länge nicht ins Hauptprogramm geschafft hat.
Ein bißchen mehr Wagemut hätte dem Wettbewerb schon gut gestanden. Gaspar Noés "Love" wäre zum Beispiel ein idealer Kandidat gewesen, um die Stimmung dort aufzuheizen. Spekulationen über Noés neuesten Film geistern schon seit Jahren durchs Netz. Der Regisseur bezeichnete ihn mit ungewohnter Bescheidenheit als "a sexual melodrama about a boy and a girl and another girl", zielt aber zugleich, das macht schon der Titel klar, auf die ganz großen Themen ab. Und eines ist nach dem vorläufigen Plakat, das einen Cumshot zeigt, gewiß: Für "Love" gibt es keine Trennung zwischen geistiger und körperlicher Liebe. Warum der Film nun allerdings als Midnight-Screening gezeigt wird, weiß wohl nur Frémaux selbst.
Doch was läuft eigentlich überhaupt noch im Wettbewerb? Immer noch genug, um dem Festival entgegenzufiebern. Etwa "The Tale of Tales", in dem Matteo Garrone sich bildgewaltig mit den grausamen Märchen von Giambattista Basile auseinandersetzt; die Patricia-Highsmith-Adaption "Carol", mit der Todd Haynes sich ein weiteres Mal an einer Mimikry des klassischen amerikanischen Melodrams versucht; oder ein Martial-Arts-Film von Hou Hsiao Hsien. Außerdem stellen Yorgos Lanthimos, Paolo Sorrentino und Joachim Trier ihre englischsprachigen Debüts vor. Was davon bestehen kann, wird sich in den nächsten zwei Wochen zeigen. Als Alternative bleibt ja immer noch der Weg in den Keller des Festivalpalasts.
Sous le soleil
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